Arbeitsrecht, Sozialrecht -

Arbeitsrechtliche Sonderzahlungen in der Insolvenz

Sonderzahlungen unterliegen nach angezeigter Masseunzulänglichkeit § 209 InsO. Dies gilt für Zahlungen mit Entgeltcharakter und für solche, die für Betriebstreue oder mit Mischcharakter erbracht werden. Nur der auf die Zeit der Arbeitsleistung nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit entfallende anteilige Anspruch ist als Neumasseverbindlichkeit zu berichtigen. Das hat das BAG entschieden.

Sachverhalt

Ein gewerblicher Arbeitnehmer war seit 1980 in der Lebensmittelproduktion beschäftigt. Der Arbeitgeber hatte ihm einzelvertraglich Sonderzahlungen nach § 10 MTV für die Arbeitnehmer der obst-, gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie, Essigindustrie und Senfindustrie vom 08.12.2004 (MTV) zugesagt. Die Jahressonderzuwendung beträgt 100 % des tariflichen Monatsentgelts.

Über das Vermögen des Arbeitgebers wurde am 01.05.2014 das Insolvenzverfahren mit Eigenverwaltung eröffnet. Am 31.10.2014 zeigte der Sachwalter an, die Masse sei unzulänglich. Das Arbeitsverhältnis wurde über diesen Zeitpunkt hinaus fortgesetzt. Auf die Jahressonderzuwendung für das Jahr 2014 nach § 10 MTV leistete der Arbeitgeber im November 2014 zwei Zwölftel einer Bruttomonatsvergütung, d.h. 401 €. Durch Vertrag vom 15.12.2014 wurde das Arbeitsverhältnis zum Ablauf des 21.12.2014 aufgehoben.

Der Arbeitnehmer hat Klage auf Zahlung der der restlichen Jahressonderzuwendung nach § 10 MTV i.H.v. 2.005 €brutto erhoben. Das ArbG Düsseldorf hat der Klage mit Urteil vom 05.08.2015 (3 Ca 2646/15) im Umfang von 1.403 € brutto stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Das LAG Düsseldorf hat die Berufung des Arbeitgebers mit Urteil vom 10.02.2016 (12 Sa 1051/15) zurückgewiesen. Auf die Revision der Beklagten hat das BAG die Klage vollständig abgewiesen.

Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Bei dem nicht erfüllten Anspruch auf die Einmalzahlung handelt es sich nicht um eine solche Neumasseverbindlichkeit.

Das Berufungsgericht hat die Jahressonderzuwendung nach § 10 MTV als reine Betriebstreueregelung verstanden und deshalb die noch ausstehende Jahressonderzuwendung für das Jahr 2014 als Neumasseverbindlichkeit i.S.v. §§ 53, 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 InsO eingeordnet. Die Auslegung des § 10 MTV führt zu dem Ergebnis, dass die Sonderzahlung auch arbeitsleistungsbezogen erbracht wird. Es handelt sich wegen der kombinierten Zwecke der Förderung der Betriebstreue und der zusätzlichen Vergütung der Arbeitsleistung um eine Sonderzahlung mit „Mischcharakter“.

Unabhängig davon sind auch Sonderzahlungen mit reinem Betriebstreuecharakter nach angezeigter Masseunzulänglichkeit nicht vollständig Neumasseverbindlichkeiten, selbst wenn die Forderung erst mit einem Stichtag nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit entsteht. Eine völlige Vernachlässigung der tatsächlichen Arbeitsleistung in diesen Fällen ist nicht mit dem Wortlaut des § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO vereinbar.

Neumasseverbindlichkeiten werden nach § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO nur begründet, soweit die Gegenleistung zur Masse gelangt. Gegenleistung ist die vom Arbeitnehmer nach § 611 Abs. 1 BGB geschuldete Arbeitsleistung. Sowohl Sonderzahlungen mit Entgeltcharakter als auch Sonderzahlungen mit reinem Betriebstreue- oder „Mischcharakter“ sind als Neumasseverbindlichkeiten nur anteilig für den Zeitraum geleisteter Arbeit nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit zu berichtigen.

Folgerungen aus der Entscheidung

Das BAG überträgt die Grundsätze aus dem Urteil vom 21.11.2006 (9 AZR 97/06) zur Frage der Neumasseverbindlichkeit von Urlaubsentgeltansprüchen auf Ansprüche aus Einmalzahlungen. Im Falle der Gewährung offener Urlaubsansprüche durch den Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit und Heranziehung eines Arbeitnehmers zur Arbeitsleistung gilt der Anspruch auf Urlaubsentgelt nur anteilig als Neumasseverbindlichkeit – nämlich im Verhältnis der Dauer der nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit erbrachten Arbeitsleistung zum Kalenderjahr.

Gleiches gilt für den Anspruch auf Urlaubsabgeltung. Eine Unterscheidung zwischen Sonderzahlungen mit unterschiedlichem Zweck, insbesondere hinsichtlich Zahlungen, mit denen ausschließlich die Betriebstreue honoriert wird, ist für die Frage der Qualifizierung als Neumasseverbindlichkeit irrelevant.

In Zukunft ist bei Ansprüchen aus Einmalzahlungen im Insolvenzfall zu differenzieren zwischen

  • dem Anteil, der auf den Zeitraum bis Eröffnung des Insolvenzverfahrens (= Insolvenzforderung) entfällt,
  • dem Anteil, der der auf den Zeitraum zwischen Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Anzeige der Masseunzulänglichkeit (= Altmasseverbindlichkeit i.S.v. § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO) entfällt,
  • dem Anteil, der auf den Zeitraum der Inanspruchnahme der Arbeitsleistung nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit entfällt (= Neumasseverbindlichkeit i.S.v. § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 InsO).

Praxishinweis

Nimmt der Arbeitgeber (bei Eigenverwaltung) bzw. der Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers in Anspruch, werden als Zeit der Arbeitsleistung auch sog. „unproduktive“ Ausfallzeiten wie Zeiten krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit berücksichtigt (BAG, Urt. vom 08.05.2014 - 6 AZR 246/12). Der anteilige Anspruch auf die Jahressonderzuwendung, der auf solche Ausfallzeiten entfällt, wird als Neumasseverbindlichkeit i.S.v. § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 InsO berichtigt.

Der Arbeitnehmer als Neumassegläubiger kann seine Ansprüche im Wege der Leistungsklage verfolgen – vorbehaltlich der Erhebung des Einwands der Neumasseunzulänglichkeit durch den Schuldner. Die Frage, ob es sich tatsächlich um eine Neumasseverbindlichkeit nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 InsO handelt, ist keine Frage der Zulässigkeit der Leistungsklage, sondern von deren Begründetheit.

BAG, Urt. v. 23.03.2017 - 6 AZR 264/16

Quelle: Rechtsanwalt und FA für Arbeitsrecht Dr. Martin Kolmhuber