Verkehrsrecht -

Hätten Sie es gewusst?

Ist ein Erziehungsberechtigter dazu verpflichtet, sein zweijähriges Kind auf dem Bürgersteig neben einer befahrenen Straße an der Hand zu halten?

Nein, entschied das OLG Saarbrücken unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils, nachdem es sich u.a. mit der Frage zu beschäftigen hatte, in welchem Rahmen Erziehungsberechtigten eine Aufsichtspflicht für ihre Kinder im Straßenverkehr zukommt.

Die Klägerinnen, eine Mutter und ihre zweijährige Tochter, gingen zum Unfallzeitpunkt beide zu Fuß auf einem Bürgersteig. Die Mutter ging auf der zur Straße zugewandten Seite, die Tochter befand sich auf der zur Hauswand gerichteten Seite. Der Beklagte befuhr mit seinem Pkw die Straße links von den Klägerinnen in derselben Richtung. In Fußrichtung der Klägerinnen war auf dem Bürgersteig ein Lieferwagen geparkt. Als sich die Klägerinnen in Höhe des Lieferwagens befanden, lief die zweijährige Tochter von der Mutter weg und gelangte hinter dem Lkw auf die Fahrbahn. Die Mutter rannte hinter ihrer Tochter her und beide wurden von dem Fahrzeug des Beklagten auf der Fahrbahn erfasst und schwer verletzt. Der Beklagte hatte zum Unfallzeitpunkt Alkohol und Cannabis konsumiert und eine Blutalkoholkonzentration von 0,37 Promille.

Das Landgericht hat erstinstanzlich den Beklagten zum Ersatz des materiellen Schadens der Klägerinnen verurteilt, bei der Mutter jedoch unter Berücksichtigung einer Mithaftung von 50 %. Das Gericht hat diesbezüglich ausgeführt, dass der Mutter eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht gegenüber der Tochter vorzuwerfen sei.

Beide Parteien haben gegen diese Entscheidung Berufung eingelegt. Das OLG hat die erstinstanzliche Entscheidung hinsichtlich des Vorwurfs des Mitverschuldens zu Lasten der Mutter abgeändert.

Der Senat hat ausgeführt, dass weder die Tatsache, dass die Mutter ihre Tochter nicht an der Hand gehalten hat und damit nicht verhindert hat, dass diese auf die Fahrbahn gelangte, noch die Tatsache dass die Mutter selbst ohne jede Vorsicht hinter ihrer Tochter auf die Straße gerannt ist, den Vorwurf eines Mitverschuldens begründen könne.

Das Gericht geht davon aus, dass sich ein Kind im Alter von knapp zwei Jahren in einer Entwicklungsphase befindet, in der es darauf angewiesen sei, die eigenen neu erlernten Fähigkeiten fortwährend zu trainieren. Für ein Kind dieses Alters wäre es deshalb unzumutbar, wenn es sich nur an der Hand eines Erziehungsberechtigte bewegen dürfte und die Fortbewegungsfreiheit auf diesen engen Aktionsradius eingeschränkt wäre. Eine derartige Handhabung würde die Entwicklung eines Kindes deutlich beeinträchtigen.

Aus rein praktischen Erwägungen sei es auch bereits ausgeschlossen, dass ein Kind im Alter der Klägerin ständig ausschließlich an der Hand der Mutter gehe. Kinder in diesem Alter beharren auf ihre Eigenständigkeit und Selbständigkeit und bestehen auf ihrem gerade erst gelernten unabhängigen freien Laufen. Erfahrungsgemäß würde ein Kind ständig versuchen, sich von der Hand des Erwachsenen zu lösen.

Das Gericht ging deshalb davon aus, dass die Mutter ihre Tochter nur in einer besonderen Gefahrensituationen an die Hand hätte nehmen müssen. Dies würde beispielsweise beim Überqueren einer Straße, an Ausfahrten, bei denen die herausfahrenden Fahrzeuge den Bürgersteig überqueren müssen oder dann gelten, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Kind ohne auf den Verkehr zu achten auf die Straße laufen könnte. Dies könnte beispielsweise dann gelten, wenn das Kind auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Bekannten sehen würde und die Gefahr bestehe, dass das Kind ohne auf den Verkehr zu achten auf die Straße laufen würde.

Eine derartige Situation habe nach Ansicht des Gerichts hier allerdings nicht vorgelegen. Zu Gunsten der Mutter sprach insbesondere, dass sie selbst den Bürgersteig auf der zur Fahrbahn gerichteten Seite entlang ging und so das Kind von der Fahrbahn abgeschirmt hat. Weitere Maßnahmen – ohne konkreten Anhaltspunkt für eine Gefahrensituation – musste die Mutter nicht ergreifen.

Letztlich hat das Gericht noch ausgeführt, dass der Umstand, dass eine Mutter ihrem Kind nachläuft, das ohne zu schauen auf eine befahrene Straße rennt, eine reflexartige Reaktion darstellt, die mangels einer willensgesteuerten Handlung nicht dazu geeignet ist, einen Mitverschuldensvorwurf zu begründen. Die Berufung hatte daher in diesem Punkt in vollem Umfange Erfolg.

Quelle: Deubner Redaktion - Beitrag vom 02.01.07