Vollstreckung einer Kindesrückführung und Kindeswohl

Die Vollstreckung einer Entscheidung zur Rückführung eines Kindes ist zu versagen, wenn sich die Umstände nachträglich so geändert haben, dass eine Vollstreckung der Rückführung mit dem Kindeswohl nicht mehr vereinbar ist. Das hat das OLG Saarbrücken entschieden. Im Streitfall war zunächst eine Mutter gerichtlich zur Rückführung ihrer Kinder in die USA verpflichtet worden.

Sachverhalt

Die mittlerweile einvernehmlich geschiedenen Antragsteller (Vater - US-Amerikaner) und Antragsgegnerin (Mutter – deutsche Staatsangehörige) sind Eltern von drei gemeinsamen Kinder aus den Jahren 2004 und 2008. Die Familie lebte seit 2005 in den USA. Seit 2010 lebten die Kinder durchgängig bei der Mutter mit nur unregelmäßigem Kontakt zum Vater. Im März 2011 wurde den Eltern gerichtlich verboten, ohne Zustimmung des anderen mit den Kindern den Bundesstaat Arizona zu verlassen.

Im Juli 2011 erhielt die Mutter bei gemeinsamer Sorge die primäre Sorge und der Vater ein Umgangsrecht. Sie verließ mit den Kindern im August 2014 ohne Rücksprache die USA. Im April 2015 verpflichtete das AG die Mutter auf Antrag mit Fristsetzung und unter Androhung von Ordnungsgeld und Ordnungshaft zur Rückführung der Kinder. Zum Vollzug der Herausgabeverpflichtung wurden Vollstreckungsanordnungen erlassen. Aufgrund der Widersetzung der Vollstreckung durch die Kinder beantragte der Vater erfolglos die Durchsetzung der Herausgabevollstreckung mittels unmittelbaren Zwangs gegen die Kinder.

Im September 2016 beantragte der Vater die Fortsetzung der Vollstreckung. Zeitgleich übertrug der Superior Court of Arizona dem Vater die alleinige Vormundschaft, ordnete die sofortige Rückkehr der Kinder an und räumte der Mutter ein begleitetes Umgangsrecht in den USA ein. Auf der Grundlage eines aktualisierten Gutachtens und der persönlichen Anhörung der Kinder lehnt der Senat eine Vollstreckung der Rückführungsanordnung aus Juli 2015 ab.

Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Es geht darum, ob eine Rückführungsanordnung gegen den Willen der betroffenen Kinder mittels unmittelbarem Zwang vollstreckbar und welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der das Kindeswohl betreffenden Umstände entscheidend ist. Das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) schützt einen Elternteil vor einem widerrechtlichen Verbringen des Kindes ins Ausland und sichert die Sorgerechtsentscheidung am Ort des früheren kindlichen Aufenthalts.

Zur Erhaltung der Kontinuität der Lebensbedingungen wird dem Kindeswohl am besten entsprechend die Rückführung des Kindes – widerlegbar – vermutet. Eine Verpflichtung zur Rückführungsanordnung besteht nicht, wenn die sich widersetzende Person schwerwiegende Gefahren eines kindlichen körperlichen oder seelischen Schadens oder eine für das Kind unzumutbare Lage nachweist oder wenn sich das Kind der Rückgabe willentlich beachtlich widersetzt. In jeder Lage des Verfahrens, sogar im Vollstreckungsverfahren nach einem stattgebenden Rückführungsbeschluss, ist das zu berücksichtigen.

Daher ist von der Anordnung einer Vollzugsmaßnahme abzusehen, wenn sie mit dem Kindeswohl nicht mehr vereinbar ist, jedenfalls wenn die hierfür maßgebenden Umstände zwischen der Anordnung der Rückführung und den Vollstreckungsmaßnahmen eingetreten sind.

Vorliegend änderte sich die Sachlage erst nach Erlass der Senatsentscheidung im Erkenntnisverfahren: Erst in deren Folge und aufgrund eines gescheiterten Vollstreckungsversuchs sind Suizidäußerungen der Zwillinge aufgetreten. Bis dato wurde den Kindern die ausreichende Verstandesreife abgesprochen. Jetzt ist jedoch deren Wille beachtlich. Ihr Wille darf keinesfalls mehr gebrochen werden.

Auch eine Rückkehr der kleinen Schwester in die USA und damit verbundenen Geschwistertrennung sind unvertretbar. Der Vollstreckung stehen die von den Kindern gegen die Rückführung vorgetragenen durchschlagenden Gründe entgegen, sodass die Voraussetzungen des Rückführungshindernisses gem. Art. 13 Abs. 2 HKÜ vorliegen.

Entscheidend ist das Widersetzen aus freien Stücken, also nicht erkennbar maßgeblich beeinflusst. Da Art 13 Abs. 2 HKÜ dem Kind kein Wahlrecht zwischen den Eltern zubilligt, müssen dessen Gründe sachbezogen sein und sich auf die Lebensumstände und ihre Verwurzelung in neuer Umgebung beziehen. Ohne Altersgrenze ist einzelfallbezogen zu urteilen. Der Senat versuchte die Umstimmung der Kinder erfolglos; ihr Wille war außerordentlich fest und in besonders unnachgiebigen Ausmaß.

Ihre unregelmäßigen Umgangskontakte zum Vater führten zu negativen bzw. wenig markanten Erinnerungen der Kinder. Da auch bei dem kleinen Geschwisterkind die Gefahr eines seelischen Schadens bei einzelner Rückführung zu befürchten ist, kommt diese nicht in Betracht. Die drohende Rückführung stellt eine erhebliche Belastung für sie dar, die ihnen anschließend abzunehmen ist.

Folgerungen aus der Entscheidung

Der Senat stellt heraus, dass trotz der besonderen HKÜ-Ziele dem Kindeswohl in jeder Lage des Verfahrens Vorrang zukommt – sogar noch im Vollstreckungsverfahren nach einem stattgebenden Rückführungsbeschluss. Auch wenn die Rückführung der Kinder seit der Entscheidung im Erkenntnisverfahren verstrichenen Zeit von knapp zwei Jahren gescheitert ist, kann die Sanktionierung des offensichtlichen Fehlverhaltens der Mutter auf Kosten der Kinder nicht Ziel und Maßstab der vorliegenden Entscheidung sein.

Der Kindeswille ist bei entsprechendem Alter und Reife sowie anhand der Stärke seiner Ablehnung zu berücksichtigen. Seine vorgetragenen Argumente sollten sich auf die Lebensumstände und seine Verwurzelung am neuen Aufenthaltsort beziehen. Anerkennenswerte Motive sind insbesondere eine gute soziale Einbindung, Sprachkenntnisse, Freunde, die schulische Situation, private Aktivitäten sowie der Kontext der Ablehnung, wie z.B. Grad der Beeinflussung und Geschwistertrennung.

Praxishinweis

Die zwangsweise Durchsetzung einer Rückführung gegen den Kindeswillen bedarf durchdringender gerichtlicher Prüfung. Da dem Kindeswillen – auch ungeachtet des  Kindesalters – einzelfallbezogen ein immenses Gewicht zukommt, sind auch Änderungen der jeweiligen Sachlage zu berücksichtigen, die nach stattgegebenem Rückführungsbeschluss und Vollstreckung eingetreten sind.

OLG Saarbrücken, Beschl. v. 10.07.2017 - 6 UF 98/15

Quelle: Ass. jur. Nicole Seier