6.1.9 Maßnahmen gegen den Angeklagten, der zur Hauptverhandlung nicht erscheint - Zwangsmittel nach § 230 Abs. 2 StPO (Vorführhaftbefehl, Haftbefehl)

Autor: Staub

6.1.9.1 Grundlagen

Zwangsmittel

§  230 Abs.  2 StPO normiert zwei mögliche richterliche Sanktionen gegen einen ausgebliebenen, also zur Hauptverhandlung schon nicht erschienenen Angeklagten:

Das Gericht kann einen Vorführhaftbefehl erlassen (erste Alternative), d.h., eine neue Ladung zum Hauptverhandlungstermin erfolgt nicht. Der Vorführhaftbefehl ergeht schriftlich. Er wird dem Angeklagten erst bei Vollzug bekanntgegeben, um das Erscheinen des Angeklagten in der Sitzung zu erzwingen.

Oder das Gericht kann auch einen "echten" Haftbefehl nach § 114 StPO erlassen (zweite Alternative).

Verhältnismäßigkeit

Es gilt immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sofern also das Erscheinen des Angeklagten mit einfacheren Mitteln sichergestellt ist, dürfen Zwangsmittel nach § 230 Abs.  2 StPO nicht angewendet werden (Beispiel: Der Angeklagte ist in anderer Sache in Strafhaft oder wohnt in der Nähe des Gerichts und kann daher angerufen oder von der Polizei geholt werden).

Vorrang

Der Vorführhaftbefehl hat als weniger einschneidende Maßnahmen Vorrang vor dem Haftbefehl nach § 114 StPO (BGHSt 32, 19). Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt wäre, dass der Angeklagte zu dem Termin erscheinen wird (vgl. BVerfGE 32, 87, 93 f.).

Voraussetzungen