9.2.74 Befangenheit des Richters bei Erstreben eines rechtskräftigen Urteils

Autor: Artkämper

Kurzüberblick

Stellt ein Richter ein Strafmaß deutlich unter 60 Tagessätzen in Aussicht mit der Begründung, dass dies auf eine unwahrscheinliche Berufungszulassung hinauslaufen werde, liegt ein Grund zur Besorgnis der Befangenheit vor (AG Stralsund, Beschl. v. 01.07.2021 - 313 Cs 719/19).

Sachverhalt

Vor dem Amtsgericht wird wegen unerlaubten Aufenthalts ohne erforderlichen Aufenthaltstitel verhandelt. Im Rahmen der Hauptverhandlung stellt der Vorsitzende Richter dem Angeklagten ein Strafmaß von deutlich unter 60 Tagessätzen in Aussicht mit der Begründung, dass in diesem Fall die Möglichkeiten eines Rechtsmittels eingeschränkt seien.

Der Verteidiger lehnt den Vorsitzenden daraufhin namens und in Vollmacht des Angeklagten wegen der Besorgnis der Befangenheit ab.

Zu Recht?

Lösung

Der Ablehnungsantrag ist begründet.

Die Besorgnis der Befangenheit liegt vor, wenn ein Grund besteht, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen (BGH, Urt. v. 17.06.2015 - 2 StR 228/14, NStZ 2016, 58). Es kommt nicht darauf an, dass der Richter tatsächlich nicht objektiv ist (BGH, NJW 1972, 1288; BGH, NStZ 2008, 117). Auch ist nicht entscheidend, dass er die Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit nachvollziehen kann (KK/Scheuten, § 24 Rdnr. 4 unter Verweis auf BVerfGE 32, 288).