22.2.2 Unterscheidung zwischen Augenscheins- und Urkundsbeweis

Autor: Wußler

Kurzüberblick

Der Augenschein umfasst die unmittelbare Wahrnehmung durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen (BGH, Urt. v. 28.09.1962 - 4 StR 301/62, BGHSt 18, 51, 53).

Durch die Inaugenscheinsnahme einer Urkunde können regelmäßig allein ihr Vorhandensein sowie ihre Beschaffenheit, indessen kann nicht ihr Inhalt bewiesen werden. Soll dieser als Beweisstoff zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht werden, muss die Urkunde verlesen werden (BGH, Beschl. v. 13.04.1999 - 1 StR 107/99, NStZ 1999, 424).

Sachverhalt

Ausgangsfall

Der Angeklagte ist wegen Beleidigung nach § 185 StGB angeklagt. Ihm wird in der Anklageschrift zur Last gelegt, er habe der Geschädigten G einen mehrseitigen Brief geschickt, in welchem er diese u.a. als "niveauloses Miststück" herabgewürdigt habe. Den Brief hat die Geschädigte als Beweismittel der Polizeidienststelle übergeben, bei welcher sie Strafanzeige erstattete und Strafantrag stellte. Diese wiederum hat den Brief der Beweismittelverwaltung der Staatsanwaltschaft vorgelegt. Den Brief hat der Richter zur Hauptverhandlung beigezogen. In der Hauptverhandlung nimmt er am Richtertisch den Brief in Augenschein und gibt den Textinhalt wieder.

Kann der Inhalt des Briefs in dieser Form in die Hauptverhandlung eingeführt werden?

Abwandlung