26.2.1 Anwendung eines anderen Strafgesetzes

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Autor: Wußler

Kurzüberblick

§ 265 Abs. 1 StPO verpflichtet das Gericht, dem Angeklagten einen Hinweis zu erteilen und diesem Gelegenheit zur Verteidigung zu geben, wenn es ihn aufgrund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilen will.

Die Hinweispflicht dient vor dem Hintergrund des Rechts des Angeklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG und des rechtsstaatlichen Grundsatzes des fairen Verfahrens (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.12.2005 - 2 BvR 1769/04) der Gewährleistungen einer sachdienlichen Verteidigung des Angeklagten. Er soll vor überraschenden Entscheidungen geschützt werden.

§ 265 Abs. 1 StPO verlangt den Hinweis des Gerichts auf eine Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts der in Betracht kommenden Verurteilung (BGH, Urt. v. 30.07.1969 - 4 StR 237/69, NJW 1969, 2246, 2247).

Die neu in Betracht kommende Strafnorm ist mit ihrem Wortlaut und auch hinsichtlich der einschlägigen Tatbestandsalternative oder Begehungsform zu bezeichnen (BGH, Urt. v. 30.07.1969 - 4 StR 237/69, NJW 1969, 2246, 2247).

Sachverhalt

In einem von der Staatsanwaltschaft beantragten und vom Gericht erlassenen Strafbefehl, in dem eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen festgesetzt wurde und gegen den der Verteidiger form- und fristgerecht Einspruch eingelegt hat, wird dem Angeklagten vorgeworfen, er habe zum Tatzeitpunkt in seiner Wohnung 20 Gramm Haschisch ohne die erforderliche Erlaubnis zum Eigenkonsum verwahrt. In der Strafakte finden sich Auswertevermerke der Kriminalpolizei über auf dem Mobiltelefon des Angeklagten gespeicherte Kurznachrichten, die er mit verschiedenen Personen austauschte. In den Kurznachrichten äußerte der Angeklagte u.a., dass er nicht mehr "smoke", da ihn dies total "fertig mache". Außerdem finden sich viele Nachrichten, in denen er sich mit Personen zu Treffen verabredet, um diesen "Zeitschriften" zu übergeben.

In der Hauptverhandlung wird der Kriminalbeamte, welcher die Auswertung des Mobiltelefons vorgenommen hat, über die auf dem Mobiltelefon gespeicherten Inhalte umfassend vernommen. Das Gericht verurteilte den Angeklagten schließlich wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von sechs Monaten, da der Angeklagte in den Kurznachrichten einen Konsum leugnete und es in den vereinbarten Treffen mit mehreren Personen ohne vernünftigen Grund Treffen für die weitere Vereinbarung und Abwicklung für Verkaufsgeschäfte hinsichtlich Betäubungsmitteln durch den Angeklagten sah.

Was hat der Verteidiger jetzt zu beachten?

Lösung

Schutz vor Überraschungsentscheidung

Die Verurteilung des Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln steht im Widerspruch zum Inhalt des Tatvorwurfs im Strafbefehl, der die "mildere" Begehungsform des Besitzes von Betäubungsmitteln enthielt. Die nunmehrige Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens stellt daher für den Angeklagten eine sogenannte Überraschungsentscheidung dar. Unter Umständen hätte er sich anders verteidigt, hätte er gewusst, dass das Gericht auch eine Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Betracht zieht.

Der Strafbefehl steht der zugelassenen Anklage gleich (§§ 407, 408 StPO). Die Anwendung des Straftatbestands des unerlaubten Handeltreibens von Betäubungsmitteln gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG entspricht nicht der rechtlichen Würdigung des Tatsachverhalts im Strafbefehl. Das Gericht hätte wegen der Anwendung des anderen Strafgesetzes einen rechtlichen Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO erteilen müssen.

Prozesstaktische Hinweise

Revision

Die Verletzung von § 265 Abs. 1 StPO stellt einen Rechtsverstoß dar, der mit der Revision nach § 337 Abs. 1 StPO angegriffen werden kann. Im vorliegenden Fall kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte sich bei einem rechtlichen Hinweis, dass auch eine Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens in Betracht kommt, anders verteidigt hätte (beispielsweise er sich über den Inhalt der auf seinem Mobiltelefon gespeicherten Kurznachrichten dahin erklärt hätte, dass deren Inhalt nicht der Wahrheit entspreche, um bei den Nachrichtenempfängern besser dazustehen).