26.2.6 Änderung der Tatsachengrundlage

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Autor: Wußler

Kurzüberblick

Nach § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO sind Fälle hinweispflichtig, in denen sich erst in der Hauptverhandlung die Sachlage gegenüber der Schilderung des Sachverhalts in der zugelassenen Anklage ändert und dies zur genügenden Verteidigung einen Hinweis erforderlich macht.

Bei einer Änderung der Tatsachengrundlage, insbesondere bei einer Änderung der Tatzeit, ist ein rechtlicher Hinweis nach § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO zu erteilen (BGH, Beschl. v. 23.11.2000 - 1 StR 429/00, NStZ-RR 2001, 263).

Allerdings sind nur solche Veränderungen hinweispflichtig, die für das Verteidigungsverhalten des Angeklagten bedeutsam sind ("zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich").

Sachverhalt

Dem Angeklagten wird vorgeworfen, am 24.12. gegen 18.30 Uhr in die Wohnung des Geschädigten G eingedrungen zu sein und dort hochwertigen Schmuck im Wert von 40.000 € entwendet zu haben. Der Tatvorwurf beruht maßgeblich auf Videoaufzeichnungen des Hauseingangsbereichs der Wohnung des Geschädigten G. Auf den Videoaufzeichnungen sind auch Aufnahmedatum und Aufnahmezeit gespeichert. Auf ihnen ist eine Person zu sehen, die wesentliche Ähnlichkeit mit dem Angeklagten aufweist.

Der Angeklagte erklärt, dass er sich am 24.12. zur Tatzeit bei seiner geschiedenen Ehefrau aufgehalten habe, um mit ihr das Weihnachtsfest zu feiern. Die geschiedene Ehefrau bestätigt diese Angaben glaubhaft als Zeugin in der Hauptverhandlung.

Bei der Einvernahme des Geschädigten G in der Hauptverhandlung stellt sich heraus, dass Aufnahmedatum und -zeit im Tatzeitraum bei der Videoüberwachungsanlage falsch eingestellt waren. Die Videoüberwachungsanlage hat versehentlich zwei Tage zurückgerechnet. Tatsächlich zeichnete die Videoüberwachungsanlage somit ein Geschehen am 26.12. gegen 18.30 Uhr auf.

Das Gericht war von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt und verurteilte ihn wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls gem. §§ 242 Abs. 1, 244 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 StGB.

Hätte das Gericht einen rechtlichen Hinweis i.S.v. § 265 StPO erteilen müssen?

Lösung

Im vorliegenden Fall hat sich die tatsächliche Urteilsgrundlage geändert, der rechtliche Gesichtspunkt der zugelassenen Anklage ist hingegen derselbe geblieben. Diese Fallkonstellation ist in § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO erfasst. Zu einer Veränderung der Sachlage führen insbesondere Änderungen

der Tathandlung (BGH, Urt. v. 12.02.1991 - 4 StR 506/90, StV 1991, 502),

des Tatorts (BGH, Urt. v. 21.12.1995 - 5 StR 392/95, NStZ 1996, 296) oder

des Tatopfers (BGH, Urt. v. 8.10.1963 - 1 StR 553/62, BGHSt 19, 141, 142).

Auch bei Auswechselung der Tatzeit hat ein rechtlicher Hinweis nach § 265 StPO zu erfolgen (BGH, Beschl. v. 08.11.2005 - 2 StR 296/05, NStZ-RR 2006, 213, 214).

Allerdings stellt § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO mit dem Erfordernis der Erforderlichkeit zur genügenden Verteidigung klar, dass nur solche Veränderungen die Hinweispflicht auslösen, die für das Verteidigungsverhalten des Angeklagten bedeutsam sind.

Im vorliegenden Fall wird das fehlerhafte Urteil auch auf dem unterbliebenen Hinweis beruhen, da der Angeklagte für die in der Anklageschrift enthaltene Tatzeit zunächst einen Alibibeweis hatte, sich also auf die geänderte Tatzeit erneut einstellen muss. Der unterbliebene Hinweis kann daher erfolgreich mit der Revision angefochten werden.

Prozesstaktische Hinweise

Feststellung eines Alibis

Der Tatrichter darf einen Angeklagten nicht darüber im Unklaren lassen, dass er die Verurteilung auf tatsächliche Umstände stützen will, die so in der Anklage nicht enthalten sind. Hat ein Angeklagter für die in der Anklage bezeichnete Tatzeit ein Alibi, so darf das Gericht keine andere Tatzeit feststellen, ohne den Angeklagten vorher auf diese Möglichkeit hinzuweisen. Dass sich eine andere Tatzeit beispielsweise aus den Bekundungen von Beweispersonen ergibt, ist für sich allein nicht ausreichend. Es muss vielmehr deutlich geworden sein, dass das Gericht selbst diesen Gesichtspunkt aufgenommen und in die Erwägungen einbezogen hat, die für die Entscheidung bedeutsam sind (vgl. BGH, Beschl. v. 08.11.2005 - 2 StR 296/05, StV 2006, 121).

Faires Verfahren

Weist der Tatrichter einen Beweisantrag im Wege der Wahrunterstellung zurück, so schafft er dadurch einen Vertrauenstatbestand, der jedenfalls in den Fällen eines als wahr unterstellten Alibis die Nichtverurteilung wegen der betreffenden Tat insgesamt umfasst. Daher muss das Gericht aus Gründen der Fairness des Verfahrens einen Hinweis gem. § 265 Abs. 1 StPO auch dann erteilen, wenn es Feststellungen zu Lasten des Angeklagten treffen will, die zwar der als wahr unterstellten Tatsache nicht unmittelbar widersprechen, auf deren Nichtannahme der Angeklagte jedoch aufgrund der Wahrunterstellung seines Alibis erkennbar vertraut hat (vgl. BGH, Beschl. v. 08.11.2005 - 2 StR 296/05, StV 2006, 121).

Muster

Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung (Änderung der Tatzeit)