Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich stationär in Krankenhäusern durchzuführen, verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. Der Krankenhausvorbehalt ist mit Art. 2 GG unvereinbar, soweit Betreuten dadurch mit einiger Wahrscheinlichkeit erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit drohen.
Darum geht es
Widerspricht eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), kann ein Betreuer mit entsprechendem Aufgabenkreis in die ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen.
Die Voraussetzungen für die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme legt § 1906a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. beziehungsweise § 1832 Abs. 1 Satz 1 BGB n.F. fest. Eine der Voraussetzungen besteht darin, dass die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt wird.
Die Einwilligung des Betreuers in die ärztliche Zwangsmaßnahme bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichts (§ 1906a Abs. 2 BGB a.F., § 1832 Abs. 2 BGB n.F.). Auch in eine etwaig notwendige Verbringung des Betreuten zu einem stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus gegen seinen natürlichen Willen zum Zweck der ärztlichen Zwangsmaßnahme kann der Betreuer einwilligen; diese Einwilligung steht ebenfalls unter betreuungsgerichtlichem Genehmigungsvorbehalt.
Die psychisch schwer erkrankte Betroffene wendet sich im Ausgangsverfahren gegen die Versagung der betreuungsgerichtlichen Genehmigung, ihre zwangsweise ärztliche Behandlung mit einem Neuroleptikum statt in einem Krankenhaus in dem von ihr bewohnten Wohnverbund durchzuführen.
Für sie ist seit dem Jahr 2000 eine Betreuung, unter anderem für die Gesundheitssorge und die Aufenthaltsbestimmung eingerichtet. Die Beschwerde gegen die zurückweisende Entscheidung des Betreuungsgerichts war erfolglos.
Auf die zugelassene Rechtsbeschwerde hat der BGH das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob es mit der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar ist, dass § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. für die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme die Durchführung der Maßnahme in einem Krankenhaus auch bei solchen Betroffenen voraussetzt, die aus medizinischer Sicht gleichermaßen in der Einrichtung, in der sie untergebracht sind und in der ihre gebotene medizinische Versorgung einschließlich ihrer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, zwangsbehandelt werden könnten und die durch die Verbringung in ein Krankenhaus zwecks Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. teilweise mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG unvereinbar ist. Die Entscheidung ist mit 5 : 3 Stimmen ergangen.
Die Regelung greift in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ein. Die Bindung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus mit näher bestimmtem Versorgungsniveau ist zwar grundsätzlich zulässig. Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, ist aber verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
Die von der beanstandeten Regelung ausgehenden Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit müssen wie ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht nicht einwilligungsfähiger Betreuter in Bezug auf ihre körperliche Integrität behandelt werden.
Mit der beanstandeten Regelung zielt der Staat auf die Überwindung eines der Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus entgegenstehenden natürlichen Willens ab und übernimmt durch das zwingende Erfordernis einer betreuungsgerichtlichen Genehmigung die Mitverantwortung für Beeinträchtigungen des Selbstbestimmungsrechts und der körperlichen Integrität.
Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erweist sich im Hinblick auf die vorbezeichneten Anwendungsfälle als verfassungsrechtlich unverhältnismäßig im engeren Sinne.
Die verfassungsrechtliche Angemessenheit und damit die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordern, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen.
Das Gewicht des mit der beanstandeten Regelung verbundenen Eingriffs in das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Integrität ist hoch, in Einzelfällen sogar sehr hoch. Jede ärztliche Zwangsmaßnahme überwindet einen der Durchführung der Maßnahme entgegenstehenden natürlichen Willen der betroffenen Betreuten.
Durch die zwingende Vorgabe eines stationären Krankenhausaufenthalts ist es Betroffenen verwehrt, auf den Durchführungsort Einfluss zu nehmen oder die ärztliche Zwangsmaßnahme durch einen Behandelnden ihres Vertrauens durchführen zu lassen.
Das Eingriffsgewicht weiter erhöhen können Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität durch die konkreten ärztlichen Maßnahmen, durch einen Umgebungswechsel zum Beispiel bei an Demenz erkrankten Patientinnen und Patienten, durch ein gesteigertes Ansteckungsrisiko mit spezifischen Infektionskrankheiten bei einem Aufenthalt in einem Krankenhaus, durch eine Entfremdung von der gewohnten Umgebung oder durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs zum Zweck der Verbringung in das Krankenhaus.
Die vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke sind allerdings von hohem Gewicht. Besonders bedeutsam ist das mit der Umsetzung dieser Schutzpflichten verfolgte Ziel sicherzustellen, dass die Möglichkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht einwilligungsfähigen Betreuten nur unter engen Voraussetzungen und als letztes Mittel besteht. Auch das Anliegen, vermeidbare erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit auszuschließen, ist von erheblichem Gewicht.
In der Gesamtabwägung ist der Eingriff unangemessen, soweit Betreuten im Einzelfall aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen sind, erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen und zu erwarten ist, dass diese Beeinträchtigungen bei einer Durchführung in der Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind und in welcher der Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können.
Dies dürfte nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung insbesondere in solchen Fällen in Betracht kommen, in denen ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten zum wiederholten Male durchgeführt werden und in denen sich aus vorangehenden Genehmigungsverfahren ggf. besondere Erkenntnisse zu den ihnen voraussichtlich drohenden Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit ergeben.
Vermeidbar sind die Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit allerdings nur, soweit in der Einrichtung, in der die Betroffenen untergebracht sind, keine anderen Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen grundrechtlich geschützten Position der Betroffenen mit vergleichbarem Gewicht drohen.
In diesen Fällen ist kein überwiegendes verfassungsrechtlich geschütztes Interesse erkennbar, das es rechtfertigen könnte, Betroffenen in einer Situation äußerster Schutzbedürftigkeit die Hinnahme voraussichtlich vermeidbarer erheblicher Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit zuzumuten.
Erst recht ist nicht hinreichend erkennbar, dass und weshalb keine alternativen oder ergänzenden Möglichkeiten gesetzlicher Regelungen bestehen sollten, um konsequent sicherzustellen, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich als letztes Mittel (ultima ratio) ergriffen werden.
Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Unangemessenheit des mit § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verbundenen Eingriffs über Hauptsacheverfahren hinaus auch für Verfahren der einstweiligen Anordnung mit ihrem abgesenkten Prüfungsmaßstab bei der Sicherung des ultima-ratio-Gebots zu bejahen ist, bleibt in dieser Entscheidung offen.
In diesem Umfang ist die Unvereinbarkeit des § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG auszusprechen. Die teilweise Unvereinbarkeitserklärung ist auf die inhaltsgleiche Nachfolgenorm des § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. zu erstrecken.
Bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, die spätestens bis zum Ablauf des 31.12.2026 zu treffen ist, gilt das bisherige Recht fort.
BVerfG, Urt. v. 26.11.2024 - 1 BvL 1/24
Quelle: BVerfG, Pressemitteilung v. 26.11.2024