Koalitionsverhandlungen im Arbeits- und Sozialrecht

Die weiteren arbeits- und sozialrechtlichen Ergebnisse im Koalitionsvertrag: wenig Konkretes, viel Geschwurbel

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Die Präsentation des Koalitionsvertrags durch die Ampel ist jetzt eine Woche alt. Der seither aufgekommene Beifall hält sich in Grenzen. Die verbreitet anzutreffende Charakterisierung des Textes als ein „Kompendium von Wunschvorstellungen“ trifft wohl die allgemeine Stimmung.

Das gilt auch für den Bereich des Arbeits- und des Sozialrechts. Der versprochene Fortschritt, der sich unter anderem in der Präsentation konkret umrissener Vorhaben äußern sollte, bleibt aus. Vieles wirkt auch wenig ambitioniert. Stattdessen dominieren – von wenigen Ausnahmen (Mindestlohn, Minijobs, Rente) abgesehen – Formelkompromisse und die Ankündigung von „Dialogen“ mit Sozialpartnern und Interessenverbänden.

Nicht uninteressant fällt in diesem Zusammenhang die Bewertung durch Gewerkschaften und Arbeitgeber aus. Während der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) einen Vertrag „mit Stärken und Schwächen“ erkennen will, gibt es Lob von Arbeitgeberseite. Gesamtmetall, bislang eher als sozialpolitischer Wadenbeißer bekannt, meint jedenfalls: „Im Bereich Arbeit und Soziales ist der neue Koalitionsvertrag … deutlich besser als der letzte Koalitionsvertrag der GroKo.“

https://www.wiwo.de/politik/deutschland/fuer-einen-grossen-wurf-reicht-es-nicht-das-sagen-wirtschaft-und-verbaende-zum-koalitionsvertrag/27830466.html

Sozialpolitiker der Ampel dürfte dieses Urteil veranlassen, den Vertrag noch einmal sorgfältig zu lesen.

An diesem Wochenende steht die Zustimmung der Ampel-Parteien zum Vertrag und damit zur Koalition selbst an. Den Anfang wird die SPD auf einem Sonderparteitag am Samstag (04.12.) machen, ihr folgt die FDP auf einem außerordentlichen Parteitag am Sonntag (05.12.). Am gleichen Tag endet die Onlinebefragung der Mitglieder bei Bündnis 90/Die Grünen. Alles andere als eine Zustimmung wäre eine Überraschung. Die neue Bundesregierung wird deshalb am kommenden Mittwoch (08.12.) – nach der Wahl von Olaf Scholz – ihre Arbeit aufnehmen.

Das Spektrum der angesprochenen Themen ist breit. Es reicht von Fragen der Arbeitszeit und des Homeoffice über Mutterschutz und Whistleblowing bis zur Mitbestimmung und zum Rentenversicherungsschutz von Selbständigen.

Arbeitszeit

In Sachen Arbeitszeit soll grundsätzlich am Achtstundentag festgehalten werden. Gleichzeitig sollen 2022 sogenannte Experimentierräume geschaffen werden, die ein Abweichen von der derzeit geltenden Tageshöchstarbeitszeit „in begrenztem Umfang“ ermöglichen sollen. Was genau darunter zu verstehen ist, bleibt offen. In jedem Fall aber sollen derartige Regelungen – und dies unterscheidet sich von den Ankündigungen im Sondierungspapier – nur in Tarifverträgen oder in Betriebsvereinbarungen, die in einem Tarifvertrag erlaubt werden, zulässig sein. Arbeitszeitregelungen, die nur auf Betriebsvereinbarungen beruhen, sind damit ausgeschlossen.

Zum Thema Zeiterfassung liefert der Koalitionsvertrag keine neuen Erkenntnisse. Konkrete Vorschläge, wie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur vollständigen Dokumentation der täglichen Arbeitszeit (EuGH, Urteil vom 14.05.2019 –C-55/18 „CCOO“, DRsp Nr. 2019/7548) umgesetzt werden soll, fehlen. Zumindest scheint man sich aber bewusst zu sein, dass insoweit gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Allerdings soll zunächst in Abstimmung mit den Sozialpartnern geprüft werden, welche Anpassungen genau notwendig sind, wobei man sich ausdrücklich zur Beibehaltung der Vertrauensarbeitszeit erklärt. Zu erwarten ist eine Änderung des § 16 Abs. 2 ArbZG, der bislang nur eine Verpflichtung zur Dokumentation von Arbeitszeiten vorsieht, die über die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgehen.

Homeoffice

Wer mit verlässlichen Regelungsinhalten zum Homeoffice gerechnet hat, wird enttäuscht. Der Vertrag bekennt sich zur Ausweitung der mobilen Arbeit und einer Abgrenzung der Homeoffice-Regelungen von denen der Telearbeit und damit der Arbeitsstättenverordnung; die Arbeitsstättenverordnung gibt derzeit Anweisungen vor, wie ein Arbeitsplatz im Hinblick auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz der Mitarbeitenden auszugestalten ist. Einen Anspruch auf Homeoffice wird es jedoch nicht geben, vielmehr belässt es der Vertrag bei der Implementierung eines Anspruchs auf Erörterung von Homeoffice-Möglichkeiten. Arbeitgeber sollen dem Wunsch der Arbeitnehmer aber dann widersprechen können, wenn betriebliche Belange entgegenstehen.

Damit orientiert sich der Vertrag eng an den Überlegungen, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bereits im November 2020 vorgestellt hat:

https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetze/Referentenentwuerfe/ref-mobile-arbeit-gesetz.pdf

Plattformarbeit

Wenig aussagekräftig fallen auch die Überlegungen hinsichtlich der im Wachsen begriffenen Plattformarbeit aus. Insoweit sollen das bestehende Recht „überprüft“ und die Datengrundgrundlagen verbessert werden. Dazu soll ein „Dialog“ mit Plattformanbietern, -arbeitern, Selbständigen sowie Sozialpartnern geführt werden. Die Initiative der EU-Kommission zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf Plattformen soll „konstruktiv“ begleitet werden.

Die Plattformarbeit sollte offenbar einfach einmal erwähnt werden. Gestaltungswille sieht jedenfalls anders aus.

Elternzeit und Mutterschutz

Immerhin und deutlich konkreter: Nach den Ankündigungen im „Familienabschnitt“ sollen Familien in Zukunft dabei unterstützt werden, Erwerbs- und Sorgearbeit besser zu vereinbaren (S. 100 f.). Dazu soll eine zweiwöchige vergütete Freistellung für den Partner oder die Partnerin nach der Geburt eines Kindes eingeführt werden. Mutterschutz und Beschäftigungsverbote sollen künftig auch bei Fehl- bzw. Totgeburten nach der 20. Schwangerschaftswoche gelten. Zudem soll der elternzeitbedingte Kündigungsschutz um drei Monate nach Rückkehr in den Beruf verlängert werden, um den Wiedereinstieg abzusichern.

Whistleblowing

Wenig überraschend will die Ampel die EU-Whistleblower-Richtlinie, die eigentlich bis zum 17.12.2021 umzusetzen wäre, „rechtssicher und praktikabel“ realisieren. Das Umsetzungsgesetz der Vorgängerregierung scheiterte bekanntlich auf den letzten Metern. Siehe dazu bereits https://www.deubner-recht.de/themen/koalitionsverhandlungen-2021/verhandlungsendspurt-arbeitszeiterfassung-whistleblower-auslaendische-pflegekraefte-und-corona

Zentraler Bestandteil der Richtlinie ist die Pflicht von Unternehmen mit mindestens 50 Arbeitnehmern, ein internes anonymes Hinweisgebersystem zu errichten. Eine Meldung darf dabei keine negativen Folgen für den Arbeitnehmer haben. Laut Koalitionsvertrag sollen Whistleblower bei der Meldung von Verstößen gegen EU-Recht oder erheblichen Verstößen gegen sonstige Vorschriften sowie bei der Meldung von sonstigem Fehlverhalten von Unternehmen, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt, vor rechtlichen Nachteilen geschützt werden. Zudem soll die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen gegen Unternehmen wegen Repressalien durch Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote verbessert werden. Auf Einzelheiten in der Umsetzung darf man gespannt sein. Die Frist bis zum 17.12.2021 wird mit Sicherheit aber nicht mehr eingehalten werden können.

In kollektivrechtlicher Hinsicht finden sich Hinweise zu Tarifautonomie und zur Mitbestimmung.

Tarifautonomie

Zunächst tritt der Vertrag für eine Stärkung der Tarifautonomie, der Tarifpartner und der Tarifbindung ein. Mit welchen Mitteln dies im Einzelnen geschehen soll, bleibt allerdings rätselhaft. Noch relativ eindeutig ist die Aussage zur öffentlichen Auftragsvergabe des Bundes, die künftig an die Einhaltung eines repräsentativen Branchentarifvertrages gebunden werden soll (Tariftreue). Ähnliches gilt für den Plan, § 613a BGB „unangetastet“ zu lassen. Welche weiteren Schritte zur Stärkung der Tarifbindung sich im geplanten Dialog mit den Sozialpartnern möglicherweise ergeben werden und wie die ins Auge gefassten „weiteren Experimentierräume“ aussehen könnten, bleibt dagegen abzuwarten.

Betriebliche Mitbestimmung

Auf der Ebene der Betriebsverfassung bekennt sich der Vertrag zu einer „Weiterentwicklung“ der betrieblichen Mitbestimmung. Künftig soll es den Betriebsräten zur Disposition gestellt werden, ob sie analog oder digital arbeiten. Zudem soll das inzwischen vielfach geforderte Onlineverfahren zur Betriebsratswahl in einem – nicht näher umrissenen – „Pilotprojekt“ erprobt werden. Schließlich soll die missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts verhindert werden.

Unternehmerische Mitbestimmung

Hinsichtlich der unternehmerischen Mitbestimmung werden zwei Änderungsvorhaben genannt: Zum einen sollen künftig für den Schwellenwert von 500 Mitarbeitern, ab dem ein nach dem Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) mitbestimmter Aufsichtsrat zu bilden ist, auch die Arbeitnehmer konzernabhängiger Gesellschaften mitzählen. Bisher war dies bei Konzernsachverhalten nur dann der Fall, wenn zusätzlich noch ein Beherrschungsvertrag zwischen dem herrschenden und den beherrschten Konzernunternehmen bestand. Da dies praktisch die Ausnahme war, würde die Gesetzesänderung zu einer erheblichen Ausweitung der Mitbestimmung nach dem DrittelbG führen. Es ist dabei auch nicht davon auszugehen, dass es insoweit einen Bestandsschutz geben wird.

Die zweite Änderung betrifft die Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), die mittlerweile von vielen deutschen Großunternehmen als Trägergesellschaft genutzt wird. Diese Rechtsform unterliegt bislang weder dem Anwendungsbereich des DrittelbG noch dem des Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG). Demnach unterfällt eine im Gründungszeitpunkt mitbestimmungsfreie SE derzeit auch dann nicht der Mitbestimmung nach dem DrittelbG bzw. dem MitbestG, wenn sie in der Folge die Schwellenwerte von 500 bzw. 2.000 Arbeitnehmern in Deutschland durch organisches Wachstum überschreitet (sog. Einfrierungseffekt). Dies will die Ampel-Koalition nun ändern. Es bleibt aber abzuwarten, wie dies geschehen soll.

In sozialrechtlicher Hinsicht stechen zwei Vorhaben ins Auge:

Qualifizierungsgeld

Neu eingeführt werden soll ein sogenanntes Qualifizierungsgeld, das, angelehnt an das Kurzarbeitergeld, Unternehmen, die sich in einem Prozess des Strukturwandels befinden, ermöglichen soll, Beschäftigte zu qualifizieren, um auf diese Weise einerseits Arbeitsplätze und andererseits fachliche Expertise im Betrieb zu sichern. Beispiele wären etwa die bislang auf Verbrennungsmotore spezialisierten Zulieferer in der Automobilindustrie. Die Gewährung des Qualifizierungsgeldes soll allerdings vom Abschluss einer Betriebsvereinbarung abhängig sein. Damit wird die Leistung nur in den Betrieben möglich, in denen ein Betriebsrat besteht.

Zugleich sollen das Transfer-Kurzarbeitergeld und die den Transfergesellschaften zur Verfügung stehenden Instrumentarien weiterentwickelt werden. Was dies konkret bedeutet, lässt der Koalitionsvertrag allerdings offen.

Versicherungsschutz für Selbständige

Für alle neuen Selbständigen, die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem unterliegen, soll eine Pflicht zur Altersvorsorge mit Wahlfreiheit eingeführt werden: Selbständige sind dann in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert, sofern sie nicht im Rahmen eines „Opt-Outs“ ein privates Vorsorgeprodukt wählen. Dieses muss insolvenz- und pfändungssicher sein und zu einer Absicherung oberhalb des Grundsicherungsniveaus führen. Bei jeder Gründung soll dabei jeweils eine Karenzzeit von zwei Jahren gelten.

Diese Eckpunkte entsprechen im Wesentlichen den bereits hier angestellten Prognosen. Siehe dazu https://www.deubner-recht.de/themen/koalitionsverhandlungen-2021/themen-im-arbeits-und-sozialrecht-erste-prognosen

Und sonst so …

Um die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen – neudeutsch: gender pay gap – zu schließen, soll im Entgelttransparenzgesetz eine Prozessstandschaft verankert werden. Die Durchsetzung von Individualansprüchen kann auf diese Weise an Verbände delegiert werden.

Darüber hinaus enthält der Koalitionsvertrag eine Vielzahl weiterer Absichtserklärungen, aus denen sich wiederum keine konkreten Vorhaben ableiten lassen. So möchte die Ampelkoalition „unbürokratisch“ Rechtssicherheit bei der Beschäftigung von Selbständigen schaffen und das betriebliche Eingliederungsmanagement stärken. Ins Auge gefasst wird schließlich eine Angleichung des kirchlichen und des staatlichen Arbeitsrechts, wobei allerdings „verkündigungsnahe Tätigkeiten“ ausgenommen sein sollen.

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