Erhöhung des unpfändbaren Betrags - Was ist 2022 zu beachten?

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Die Frage der Erhöhung des unpfändbaren Arbeitseinkommens ist eine Frage, die sich sowohl im Insolvenzverfahren als auch in der Zwangsvollstreckungspraxis stellt.

Häufig sehen sich Gläubiger, die gegen ihren Schuldner vollstrecken, Anträgen gegenüber, in denen der Schuldner einen Mehrbehalt seines Einkommens über die Pfändungsgrenze hinaus behalten möchte. Argumentiert wird dabei mit besonderen persönlichen und wirtschaftlichen Bedürfnissen.

§ 850f Abs. 1 ZPO bietet dem Schuldner dabei verschiedene Konstellationen, mit denen er einen entsprechenden Antrag begründen kann.

Auch in der Insolvenz sieht sich der Insolvenzverwalter häufig mit einem solchen Antrag konfrontiert. Ein erfolgreicher Antrag des Schuldners schmälert dabei die Masse, was nicht nur der Verwaltervergütung schadet, sondern auch dazu führt, dass den Gläubigern eine geringere Quote zukommt.

Argumentiert wird seitens der Schuldner häufig mit besonderen Unterhaltspflichten, mit dem Argument, dass bei Anwendbarkeit der Pfändungsvorschriften weniger Einkommen verbleibt, als es die sozialrechtlichen Bestimmungen vorsehen, oder eben mit persönlichen oder beruflichen Mehraufwendungen, die eine Erhöhung rechtfertigen.

Das Vollstreckungsgericht kann dem Schuldner auf Antrag von dem nach den Bestimmungen der §§ 850c, 850d und 850i ZPO pfändbaren Teil seines Arbeitseinkommens einen Teil belassen, wenn

  1. der Schuldner nachweist, dass bei Anwendung der Pfändungsfreigrenzen entsprechend § 850c ZPO der notwendige Lebensunterhalt i.S.d. Kapitel 3 und 4 des SGB XII oder nach Kapitel 3 Abschn. 2 des SGB II für sich und für die Personen, denen er gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist, nicht gedeckt ist,
  2. besondere Bedürfnisse des Schuldners aus persönlichen oder beruflichen Gründen oder
  3. der besondere Umfang der gesetzlichen Unterhaltspflichten des Schuldners, insbesondere die Zahl der Unterhaltsberechtigten, dies erfordern

und überwiegende Belange des Gläubigers nicht entgegenstehen, so die gesetzliche Bestimmung des § 850f Abs. 1 ZPO. Da die Bestimmung also eine Abwägung zwischen Gläubigerbelangen und Schuldnerbelangen vorsieht, ist im Vorfeld einer solchen Entscheidung dem Gegner stets rechtliches Gehör zu geben.

Rechtsmittel bei einer solchen Ermessensentscheidung ist dann stets die Sofortige Beschwerde. Antragsgegner eines Antrags nach § 850f Abs. 1 ZPO wird in der Einzelzwangsvollstreckung der einzelne Gläubiger, im Insolvenzverfahren der Insolvenzverwalter sein.

Das Gesetz sieht verschiedene Möglichkeiten vor, dem Schuldner unter die Arme zu greifen, wenn sein Einkommen nach Abzug der pfändbaren Anteile nicht ausreicht. Das Gesetz sieht in § 850f Abs. 1 ZPO hiernach verschiedene Beispielsfälle vor.

Diese sind:

  • Gewährung des Existenzminimums,
  • besonderer Bedarf und
  • besonderer Umfang gesetzlicher Unterhaltspflicht.

Über § 36 Abs. 1 InsO finden die Bestimmungen des 8. Buchs Anwendung. Folglich stellen sich (siehe oben) diese Fragen sowohl in der herkömmlichen Vollstreckung als auch in der Insolvenz.

Zur Begründung führen Schuldner (siehe oben) gesteigerte Unterhaltspflichten, das Unterschreiten eines gesetzlichen Existenzminimums oder eben besondere Bedürfnisse an.

Während die Frage der (Zahl der) Unterhaltsberechtigten und deren Belange recht einfach erscheint, bieten sich aber auch hier Fallstricke, die es zu umschiffen gilt. Gewährt der Schuldner aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung seinem Ehegatten, einem früheren Ehegatten, seinem Lebenspartner, einem früheren Lebenspartner oder einem Verwandten oder nach §§ 1615l, 1615n BGB einem Elternteil Unterhalt, so erhöht sich der unpfändbare Betrag.

Die Höhe ergibt sich wiederum aus der Tabelle zu § 850c ZPO, die (nur!) bis zu fünf Unterhaltsberechtigte ausweist. Hat der Schuldner folglich höhere Unterhaltskosten, bietet die Tabelle zu § 850c ZPO nur ein unbefriedigendes Ergebnis. In solchen Fällen ist es also klar, dass der „Selbstbehalt“ erhöht werden muss, damit der Schuldner seinen Unterhaltspflichten nachkommen kann.

In einem solchen Fall kann das Vollstreckungsgericht (alternativ: das Insolvenzgericht im laufenden Verfahren, siehe oben) in einer Ermessensabwägung den unpfändbaren Betrag erhöhen. In einer solchen Konstellation werden die Belange der Gläubiger häufig hinter die berechtigten Belange des Schuldners zurücktreten müssen.

„Handlungsmöglichkeiten“ ergeben sich für die Gläubiger (den Insolvenzverwalter) dabei aber in besonderen Unterhaltskonstellationen (siehe unten Nichtberücksichtigung).

Häufig stellt sich in der Praxis des Insolvenzverfahrens oder der Einzelvollstreckung dabei die Frage, wie vorzugehen ist, wenn der Schuldner in der modernen Form der sogenannten „Patchworkfamilie“ lebt, wenn also sozialrechtlicher und familienrechtlicher Unterhalt (Bedarfsgemeinschaft) aufeinandertreffen oder aber der Schuldner über den notwendigen Unterhalt hinaus freiwilligen Unterhalt an Familienangehörige zahlt, sei es aus Notwendigkeit, sei es aus sittlich-moralischen Argumenten heraus.

Nach h.M. findet nur der „gesetzliche“ Unterhalt Berücksichtigung.1

Zahlt der Schuldner darüber hinaus also freiwilligen Unterhalt, etwa bei sogenannten „Patchworkfamilien“, ist dies nicht zu berücksichtigen.

Verkannt wird dabei nicht die ganz besondere Problematik, wenn der Schuldner nach Sozialhilfebestimmungen etwa dazu verpflichtet ist, als „Haushaltsvorstand“ nach den sozialrechtlichen Bestimmungen den Unterhalt auch anderer Angehöriger der Bedarfsgemeinschaft, denen er nicht zum gesetzlichen Unterhalt verpflichtet ist, zu übernehmen.

Mithin können zur „anzurechnenden“ Bedarfsgemeinschaft auch Kinder des Partners gehören, für die keine gesetzliche Unterhaltspflicht des Schuldners besteht.

Allerdings sieht die (noch) h.A.2 keine analoge Anwendung vor. Tatsächlich sollte dies in geeigneten Fällen jedoch keine Exkulpation zur Nichtantragstellung sein. Häufig haben einzelne Vollstreckungsgerichte auch schon entschieden, dass ein solcher sozialrechtlicher Unterhalt ebenso zu berücksichtigen sei. Von daher gilt die Lösung: Versuchen Sie es!

Die Argumentation, dass ein Einkommen bei Anwendung der gesetzlichen Pfändungsbestimmungen dazu führt, dass ein Existenzminimum unterschritten werde, ist hingegen einfacher zu prüfen. Ist dies der Fall, so kann in entsprechender Anwendung der Bestimmung des § 850f Abs. 1 ZPO folglich im Ermessen des Gerichts ein höherer Betrag als der nach § 850c ZPO zu verbleibende zur Verfügung gestellt werden.

Wird durch die Pfändung das Existenzminimum gefährdet, kann der Schuldner auf entsprechenden Nachweis hin beantragen, dass ihm ein „Mehr“ belassen wird. Hierfür wird er regelmäßig eine Bescheinigung der entsprechenden Sozialbehörde vorlegen.3

Von „täglicher“ Relevanz sind die Fälle des § 850f Abs. 1b ZPO. Eine Erhöhung des pfändungsfreien Teils des Arbeitseinkommens des Schuldners kann danach dann erfolgen, wenn besondere Bedürfnisse des Schuldners aus persönlichen oder beruflichen Gründen vorliegen.

Dies sind nur außergewöhnliche Belastungen des Schuldners, die bei den meisten Menschen in vergleichbarer Lage nicht auftreten, da üblicherweise auftretende Belastungen bei der Bemessung der Pfändungsfreigrenze nicht berücksichtigt werden.4

Besondere Belange betreffen in der Praxis vor allem die Fälle eines erhöhten Aufwands des arbeitenden Schuldners sowie besondere medizinische Belange. Folgende „Argumente“ werden dabei regelmäßig von Relevanz sein:

  • Fahrtkosten (u.a. zur Arbeitsstelle)
  • medizinische besondere Bedürfnisse
  • Wohnkosten
  • besondere Lebenshaltungskosten

Praxistipp: Bei all diesen Argumenten muss der Maßstab der „Außergewöhnlichkeit“ angesetzt werden. Stellen Sie sich – unabhängig von der Position und Argumentationsrichtung – stets die Frage: „Sind die Kosten außergewöhnlich i.S.v. bei der Allgemeinheit nicht vorkommend?“ Kann diese Frage positiv beantwortet werden, so könnte ein Antrag eines Schuldners erfolgreich sein. Ist die Argumentation hingegen fraglich, könnte die Ermessensentscheidung auch zugunsten der Gläubigerbelange ausfallen.

 

Fahrtkosten

Fahrtkosten und Entfernungen geringerer Natur kann heutzutage praktisch jeder vorweisen. Fahrtkosten können sich aber nur dann erhöhend auf die Pfändungsfreigrenze auswirken, wenn sie außergewöhnlich hoch sind, also den üblichen Rahmen übersteigen.

Beispiel: Schuldner S beantragt die Erhöhung seines Selbstbehalts, da er täglich ca. 20 km (einfach) zur Arbeit pendelt.

Bei der Bestimmung des üblichen Rahmens der Fahrtkosten gehen die Gerichte derzeit davon aus, dass ein Weg zur Arbeitsstelle von 20–30 km angesichts der heute vorherrschenden Mobilität als völlig normal gelten dürfte, denn die Mobilität der Arbeitnehmer sei in der Vergangenheit derart gestiegen, dass nur noch ein kleiner Teil der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz ohne Inanspruchnahme von öffentlichen Verkehrsmitteln oder eines eigenen Fahrzeugs erreiche.

In städtischen Ballungsgebieten wiederum werden Fahrtkosten dagegen regelmäßig „gewöhnlich“, aber auch machbar sein, denkt man an die dort häufig vorbildliche Infrastruktur.5

Medizinische Belange

Medizinische Belange stellen einen Regelfall der Antragstellung dar. Genauso regelmäßig werden solche Anträge jedoch in der Praxis zurückgewiesen. Hintergrund ist die Einstandspflicht der Krankenkassen für alle medizinisch notwendigen Behandlungen.

Kosmetische oder nur der Genesung förderliche Behandlungen, die nicht medizinisch notwendig sind, können nicht zu Lasten der Gläubiger festgesetzt werden.

Im Hinblick auf medizinische Behandlungen ist dies dann der Fall, wenn der Schuldner Beträge aufwenden muss, die ihm aus Anlass einer Krankheit entstehen, ohne dass die Kosten von der gesetzlichen Krankenkasse, von dem privaten Krankenversicherer oder der Beihilfe übernommen werden.

Solche Aufwendungen sind jedoch beziffert darzulegen und glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung kann dabei durch Vorlage geeigneter Belege einerseits und einen Nachweis, dass die Kosten andererseits nicht übernommen werden, erfolgen.

Unbezifferte, pauschale Belastungen – wie man sie in der Praxis immer wieder sieht – finden indes keine Berücksichtigung. Ein anzunehmendes Bedürfnis liegt nur vor, wenn nicht zugemutet werden kann, aus wirtschaftlichen Gründen auf die beabsichtigte Behandlung zu verzichten.6

Mit Entscheidung vom 21.12.2017 hat der BGH7 klargestellt, dass auch beim beihilfeberechtigten Privatversicherten Maßstab der Erstattungsanspruch der gesetzlichen Krankenkasse ist. Das Zwangsvollstreckungsrecht kenne keinen Unterschied bei den Schuldnern.

Ein Schuldner – egal ob pflicht- oder privatversichert – soll mithin in der Zwangsvollstreckung nicht bessergestellt werden als ein Empfänger von Sozialhilfe oder der gesetzlich Versicherte, auch wenn der Schuldner beihilfeberechtigt und privat krankenversichert ist.

Auch beim beihilfeberechtigten Privatversicherten rechtfertigen Kosten für die medizinische Behandlung, die von der gesetzlichen Krankenkasse für den gesetzlich Versicherten und der Sozialhilfe für den Sozialhilfeberechtigten nicht übernommen würden, folglich i.d.R. keine Erhöhung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens.

Kosten für medizinische Behandlungsmethoden, die (vergleichsweise) nicht von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden, können daher nur selten eine Erhöhung des unpfändbaren Betrags des Einkommens bewirken.

Kosten der Lebenshaltung

Auch Kosten der Lebenshaltung führen nur sehr selten zum Erfolg im Fall eines Antrags. Ein Gläubiger (oder der Insolvenzverwalter) wird i.d.R. zu Recht erwidern, dass übliche Lebenshaltungskosten (Miete, Krankenkassenbeitrag, Stromkosten, Rundfunkgebühren, Fahrtkosten, Telefon und Fernsehen) im Sockelfreibetrag des pfandfreien Betrags eingepreist sind und auch regelmäßig der Inflation durch Erhöhung angepasst werden.

1 BGH, Beschl. v. 19.10.2017 – IX ZB 100/16, InsbürO 2018, 38 = ZInsO 2017, 2429: „Eine analoge Anwendung des § 850c Abs. 1 S. 2 ZPO kommt nicht in Betracht, wenn der Schuldner freiwillig im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft (vgl. § 9 Abs. 2, S. 1 SGB II) seiner Lebensgefährtin Unterhalt gewährt“.

2 BGH, a.a.O.

3 RegE, BT-Drucks. 12/1754, S. 17; ZIMMERMANN/FREEMAN, ZVI 2008, 347 ff.

4 MUSIELAK/BECKER, ZPO, 8. Aufl. 2011, § 850f Rdnr. 5.

5 LG Mühlhausen, Beschl. v. 03.06.2016 – 1 T 37/16, InsbürO 2016, 467 = ZInsO 2016, 1705 ff.; LG Gera, Beschl. v. 26.08.2013 – 5 T 346/13, juris; nachfolgend: BGH, Beschl. v. 21.11.2013 – VII ZA 9/13, JurionRS 2013, 50086; OLG Köln, Beschl. v. 16.05.1989 – 2 W 80/89, JurionRS 1989, 14156; LG Marburg, Beschl. v. 16.07.1999 – 3 T 127/99; LG Trier v. 19.12.2014 – 5 T 118/14, ZVI 2015, 184 ff., welches 24 km als nicht ausreichend erachtete.

6 LISSNER, Rpfleger 2013, 911 ff.

7 BGH, Beschl. v. 21.12.2017 – IX ZB 18/17.

Autor: Dipl.-Rechtspfleger Stefan Lissner

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Die Auswirkungen in der Praxis im Fokus: Reform des § 64 InsO, Verkürzte Restschuldbefreiung, SanInsFoG, Rechtsprechung 2021/2022 uvm.

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