Bei einem Auffahrunfall spricht der Beweis des ersten Anscheins grundsätzlich gegen den Auffahrenden. Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass der Anscheinsbeweis entkräftet ist, wenn das vorausfahrende Fahrzeug einen Spurwechsel unvermittelt abbricht, wieder in die vorherige Fahrbahn einschert und abbremst. Das Gericht ging im Streitfall von einer hälftigen Haftungsverteilung aus.
Darum geht es
Der Fahrer eines bei der Klägerin versicherten Ford Ranger befuhr im Sommer 2021 zunächst den linken von drei Fahrspuren der BAB 45.
Aufgrund einer Baustelle verengte sich die Fahrbahn auf zwei Fahrspuren. Der Fahrer begann, auf den mittleren Streifen zu wechseln.
Wegen des dortigen Verkehrsaufkommens fuhr er, nachdem er ca. zur Hälfte auf der mittleren Fahrspur angelangt war, ebenso wie das vorausfahrende Fahrzeug wieder auf die linke Spur.
Auf der linken Spur bremste das vorausfahrende Fahrzeug bis zum Stillstand ab. Der Fahrer des Ford bremste ebenfalls für maximal eine Sekunde bis zum Stillstand ab.
Der hinter dem Ford auf der linken Spur befindliche Beklagte kollidierte mit dem klägerischen Fahrzeug. Der Schaden am klägerischen Schaden beläuft sich auf knapp 60.000 €.
Das Landgericht Gießen hatte der Klage auf Basis einer Haftung von 80 % stattgegeben (Urt. v. 27.11.2023 - 9 O 275/23).
Wesentliche Entscheidungsgründe
Die Berufung gegen das Urteil der Vorinstanz hat beim OLG Frankfurt am Main zu einer Haftungsquote des Beklagten von 50 % geführt.
Der grundsätzlich gegen den Auffahrenden geltende Anscheinsbeweis greifet demnach im Streitfall nicht ein.
Sowohl die unklare Verkehrslage als auch der atypische Geschehensablauf stünden dem Anscheinsbeweis entgegen.
Zudem spreche gegen den Anscheinsbeweis, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen bereits zur Hälfte vollzogenen Fahrstreifenwechsel unvermittelt abgebrochen habe.
Der Fahrer des Ford habe selbst bekundet, das Beklagtenfahrzeug auf der linken Spur nicht gesehen zu haben. Dies spreche dagegen, dass er sich vor dem von der Klägerin als „Schlenker“ bezeichneten Manöver durch Rückschau über den rückwärtigen Verkehr auf der linken Spur versichert habe.
Weder vorgetragen noch ersichtlich sei zudem, dass der Fahrer des Ford vor dem Einscheren auf die linke Spur geblinkt und so für den nachfolgenden Verkehr den Abbruch des zunächst begonnenen Fahrstreifenwechsels angezeigt habe.
Der zeitliche und örtliche Zusammenhang mit dem gescheiterten Fahrspurwechsel liege ersichtlich noch vor und sei durch den kurzzeitigen Stillstand des Fahrzeugs von einer halben bis maximal einer Sekunde nicht aufgehoben worden.
Gegen ein alleiniges Verschulden des Fahrers des Fords spreche allerdings die vom Landgericht zutreffend angenommene unklare Verkehrslage im Hinblick auf das Enden der vom Beklagten benutzten Fahrspur sowie das starke Verkehrsaufkommen, bei dem auch mit dem abrupten Abbremsen vorausfahrender oder die Spur wechselnder Fahrzeuge jederzeit zu rechnen war.
Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde kann die Zulassung der Revision begehrt werden.
OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 29.04.2025 - 9 U 5/24
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Pressemitteilung v. 28.05.2025