Das Thüringer Oberlandesgericht hat hohe Sorgfaltsanforderungen an Kraftfahrer gegenüber Kindern im Straßenverkehr aufgestellt.
Festgemacht hat es diese an § 3 Abs. 2a StVO. Nach dieser Regelung müssen sich Fahrzeugführer gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
Am 11.11.2003 ereignete sich auf der Landstraße L 2115 im Bereich der Ortschaft Berteroda ein Verkehrsunfall, bei dem ein 7-jähriges Kind ums Leben kam. Der Beschuldigte befuhr mit seinem Pkw die L 2144 von Neukirchen kommend in Richtung Berka v.d.H. Im Bereich der Ortschaft Berteroda befindet sich auf jeder Straßenseite eine Bushaltestelle. Die zulässige Geschwindigkeit ist auf 70 km/h beschränkt. Dort lief zur selben Zeit ein 7-jähriger Junge, der zuvor von dem aus der Gegenrichtung kommenden Schulbus abgesetzt worden war, am Fahrbahnrand in Richtung Neukirchen. Als sich der Beschuldigte dem Kind näherte, betrat es plötzlich die Fahrbahn und wurde vom Pkw des Beschuldigten erfasst. Der Junge verstarb aufgrund der erlittenen Verletzungen. Nachdem im Rahmen eines seitens der Staatsanwaltschaft Mühlhausen eingeleiteten Ermittlungsverfahrens ein Sachverständigengutachten ergab, dass die Kollisionsgeschwindigkeit zwischen 64 und 72 km/h gelegen haben müsse, eine Erkennbarkeit des Kindes am rechten Fahrbahnrand etwa 47 m vor der Kollision gegeben war und ein Ausweichen nach links aufgrund der Verkehrssituation frühestens ab 18 bis 22,4 m vor der Kollision möglich gewesen wäre, stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren ein.
Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass der Unfall für den Beschuldigten nicht vermeidbar gewesen sei, zumal er bei der Annäherung an die Unfallstelle davon habe ausgehen können, dass sich das am rechten Fahrbahnrand bewegende Kind ordnungsgemäß verhält. Es habe somit keine Veranlassung bestanden, die Geschwindigkeit zu verringern.
Gegen die Einstellung des Verfahrens haben die Eltern des getöteten Kindes nach erfolgloser Beschwerde gegen den Einstellungsbescheid beim Thüringer Oberlandesgericht einen Klageerzwingungsantrag eingereicht, mit welchem sie die Anklageerhebung gegen den Beschuldigten erreichen möchten.
Entscheidung:
In seiner Entscheidung über den Klageerzwingungsantrag vom 24.3.2006 vertritt der 1. Strafsenat des Thüringer Oberlandesgerichts die Auffassung, dass sich der Beschuldigte keineswegs verkehrsgerecht verhalten habe.
Vielmehr habe dieser, als er trotz Erkennbarwerdens des am Fahrbahnrand laufenden Kindes seine Geschwindigkeit von mindestens 64 km/h nicht deutlich verringerte und nicht zur Straßenmitte auswich, gegen die Vorschrift des § 3 Abs. 2a StVO verstoßen. Nach dieser Regelung müssen sich Fahrzeugführer gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
Hier sei eine deutliche Geschwindigkeitsreduzierung schon deshalb geboten gewesen, weil der Beschuldigte in der konkreten Situation nicht davon ausgehen konnte, dass eine Gefährdung nicht zu befürchten war. Schon das geringe Alter des getöteten Kindes, die unmittelbare Nähe des Jungen zum fließenden Verkehr und die Nähe zu einer Bushaltestelle sprächen für eine Gefahrenlage. Der Beschuldigte sei daher verpflichtet gewesen, nach Erkennen des am Fahrbahnrand laufenden Kindes seine bis dahin an sich zulässige Geschwindigkeit von 64 km/h deutlich zu verringern und, soweit es die Verkehrssituation zuließ, zur Straßenmitte hin auszuweichen.
Durch die Schaffung der Norm des § 3 Abs. 2a StVO habe der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Leben und körperliche Integrität von Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen absoluter Vorrang vor der Bequemlichkeit und dem Wunsch nach zügigen Vorankommen von Fahrzeugführern gebühre. Die von der Staatsanwaltschaft vertretene Auffassung, wonach ein Kraftfahrer erst dann zu einer Geschwindigkeitsreduzierung verpflichtet sei, wenn eine akute Gefahr bereits eingetreten sei, etwa wenn erkennbar werde, dass das Kind in die Fahrspur des herannahenden Verkehrs hineinzugeraten droht, sei mit dem Schutzzweck des § 3 Abs. 2a StVO nicht vereinbar.
Der Senat hat dem Klageerzwingungsantrag im Ergebnis dennoch nicht entsprochen, weil nach den eingeholten Sachverständigengutachten nicht mit einer für eine Anklageerhebung erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststehe, dass der Tod des Kindes bei sorgfaltsgemäßen Verhalten des Beschuldigten hätte vermieden werden können. Dass, wie die Sachverständigengutachten ergeben haben, die Überlebenschance des Kindes bei pflichtgemäßem Verhalten des Beschuldigten um ein Vielfaches größer gewesen wäre, reicht nach der vom 1. Strafsenat zugrunde gelegten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für eine Verurteilung des Beschuldigten nicht aus.
Quelle: Thüringer Oberlandesgericht - Pressemitteilung vom 24.03.06