Insolvenzmasse

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Freigabe einer selbständigen Tätigkeit

Erklärungspflicht des Insolvenzverwalters

Übt der Schuldner als natürliche Person eine selbständige Tätigkeit, wie etwa als Freiberufler oder Gewerbetreibender, aus oder beabsichtigt er, eine solche demnächst auszuüben, so hat der Insolvenzverwalter ihm gegenüber zu erklären, ob Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit zur Masse gehört und ob (damit) Ansprüche aus der Tätigkeit gegen die Masse geltend gemacht werden können. In Verfahren, deren Eröffnung nach dem 30.09.2020 beantragt wurde, wird die Erklärungspflicht mit § 35 Abs. 3 InsO konkretisiert: "Der Schuldner hat den Verwalter unverzüglich über die Aufnahme oder Fortführung einer selbständigen Tätigkeit zu informieren. Ersucht der Schuldner den Verwalter um die Freigabe einer solchen Tätigkeit, hat sich der Verwalter unverzüglich, spätestens nach einem Monat zu dem Ersuchen zu erklären."

Anzeige an das Insolvenzgericht

Die Erklärung des Insolvenzverwalters ist dem Gericht gegenüber anzuzeigen. Die Anzeige sowie der Beschluss über die Unwirksamkeit der Freigabe sind vom Insolvenzgericht öffentlich bekanntzumachen35 Abs. 3 InsO). Wirksam wird die Freigabe gleichwohl mit dem Zugang der Klärung an den Schuldner. Die Veröffentlichung der Freigabeerklärung durch das Insolvenzgericht ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung (BGH v. 09.02.2012 – IX ZR 75/11). Der Verwalter ist zur Abgabe der Erklärung verpflichtet. Zur Vermeidung von Haftungsansprüchen sollte die Erklärung möglichst zeitnah erfolgen, auch wenn sich hierzu im Gesetz keine Regelung findet. Auf Antrag des Gläubigerausschusses oder, wenn ein solcher nicht bestellt ist, der Gläubigerversammlung ordnet das Insolvenzgericht die Unwirksamkeit der Erklärung an (§ 35 Abs. 2 InsO). Dem Antrag hat das Insolvenzgericht ohne weitere Prüfungsmöglichkeit zu entsprechen. Hinsichtlich des Antragsbeschlusses besteht jedoch die Möglichkeit der Aufhebung nach § 78 InsO (LG Duisburg v. 24.06.2010 – 7 T 109/10).

Wirkung der Erklärung

Erklärt der Verwalter, dass Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit des Schuldners zur Insolvenzmasse gehört und folglich Ansprüche aus dieser Tätigkeit im Insolvenzverfahren als Masseverbindlichkeit geltend gemacht werden können, wird damit die gesetzliche Folge der §§ 35 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO wiedergegeben. Diese Erklärung hat deshalb nur klarstellenden Charakter. Gibt dagegen der Insolvenzverwalter die selbständige Tätigkeit frei, so fallen erzielte Gewinne nicht in die Masse und sind demnach nicht vom Insolvenzbeschlag umfasst (vgl. BGH v. 27.09.2007 – VII ZR 43/06). Auch Steuererstattungsansprüche, die sich im Rahmen der freigegebenen selbständigen Tätigkeit ergeben, gehören nicht zur Insolvenzmasse (BFH v. 01.09.2010 – VII R 35/08). Forderungen, die mit der selbständigen Tätigkeit zusammenhängen, stehen allerdings dann der Masse zu, wenn sie zwar zum Zeitpunkt der Freigabeerklärung noch nicht erfüllt sind, aber davor entstanden sind. Die Freigabe erfasst kein Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit des Schuldners, das dem Schuldner bei Wirksamwerden der Freigabeerklärung bereits gehörte (arg. § 35 Abs. 1 erster Fall InsO). Solches Vermögen steht vielmehr der Masse zu. Dies gilt insbesondere für Forderungen aus der vor der Freigabeerklärung ausgeübten selbständigen Tätigkeit des Schuldners. Die Überleitung der Vertragsverhältnisse, die der selbständigen Tätigkeit des Schuldners dienen, wirkt nicht auf Forderungen und Verbindlichkeiten zurück, soweit diese vor Wirksamwerden der Erklärung entstanden sind (BGH v. 21.02.2019 – IX ZR 246/17). Der Einzug freigegebener Forderungen obliegt allein dem Schuldner. Erbringt allerdings der gutgläubige Drittschuldner in Unkenntnis der Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters an diesen eine Leistung zur Erfüllung einer gegenüber dem Schuldner bestehenden Verbindlichkeit, so kann in entsprechender Anwendung von § 82 InsO Befreiung eintreten (BGH v. 16.12.2010 – IX ZA 30/10). Erklärt der Insolvenzverwalter gem. § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO gegenüber dem Insolvenzschuldner die Freigabe des Geschäftsbetriebs aus der Insolvenzmasse, werden hiervon auch die zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bestehenden Arbeitsverhältnisse erfasst (ArbG Berlin v. 03.06.2010 – 53 Ca 2104/10). Von der Freigabe des Insolvenzverwalters gem. § 35 Abs. 2 InsO ist auch ein Mietverhältnis umfasst, wenn ohne dieses eine selbständige Erwerbstätigkeit nicht möglich ist (LG Krefeld v. 24.02.2010 – 2 O 346/09). Umgekehrt können Forderungen gegen den Schuldner, die aus der freigegebenen Tätigkeit resultierend und nach dem Zugang der Erklärung beim Schuldner entstehen, nicht als Masseverbindlichkeiten, sondern nur gegen den Schuldner und nicht im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden (BGH v. 09.02.2012 – IX ZR 75/11; BAG v. 10.04.2008 – 6 AZR 368/07). Die Gläubiger solcher Ansprüche können die Zwangsvollstreckung in das insolvenzfreie Vermögen betreiben; denkbar ist wohl auch die Eröffnung eines gesonderten Insolvenzverfahrens über dieses Vermögen, an dem nur diejenigen Gläubiger teilnehmen, deren Forderung nach Eröffnung des ersten Insolvenzverfahrens begründet wurde (BGH v. 09.06.2011 – IX ZB 175/10; vgl. auch AG Köln v. 07.06.2010 – 71 IN 509/09). Der Schuldner kann Vollstreckungsschutz nach § 850i ZPO beantragen. Dagegen steht dem Schuldner für Forderungen aus seiner selbständigen Tätigkeit, die von der Freigabe der selbständigen Tätigkeit umfasst sind, im Verhältnis zur Masse kein Pfändungsschutz nach § 850i ZPO zu (BGH v. 25.01.2018 – IX ZA 19/17).

Erstreckung der Freigabe auf ein Geschäftskonto

Die Freigabe der selbständigen Tätigkeit des Schuldners erstreckt sich auf einen bestehenden Girovertrag, wenn der Zahlungsdiensterahmenvertrag bereits zum Zeitpunkt der Freigabe der selbständigen Tätigkeit des Klägers diente und der Kläger das auf dieser Grundlage geführte Konto ausschließlich oder nahezu ausschließlich als Geschäftskonto seiner selbständigen Tätigkeit nutzte. Unter diesen Voraussetzungen scheidet ein Geschäftskonto mit der Freigabeerklärung aus der Masse aus und geht in das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners über. Dabei kommt es – wenn keine ausdrückliche Einzelfreigabe vorliegt – auf die objektiven Umstände zum Zeitpunkt der Freigabeerklärung an (BGH v. 21.02.2019 – IX ZR 246/17). Wenn im Insolvenzverfahren über das Vermögen eines Zahnarztes der Insolvenzverwalter "die freiberufliche Tätigkeit des Schuldners als Arzt" gem. § 35 Abs. 2 InsO aus der Insolvenzmasse freigibt, gehören die auf ein nach der Freigabe errichtetes geschäftliches Girokonto des Zahnarztes eingezahlten Zahnarzthonorare zu dem insolvenzfreien Vermögen des Zahnarztes mit Ausnahme der Zahlungen auf zahnärztliche Leistungen, die vor dem Zeitpunkt der Freigabe vollständig erbracht worden waren. Bei Abschlagszahlungen der Kassenärztlichen Vereinigung kommt es für die Beurteilung der Frage, ob diese zu dem insolvenzfreien Vermögen des Zahnarztes gehören, allein auf den Zeitpunkt der Zahlung an, denn die Abschlagszahlungen sind eine vorzeitige Erfüllung der zahnärztlichen Honoraransprüche. Wenn die Abschlagszahlungen nach der Freigabe auf dem Konto eingegangen sind, fallen sie in das insolvenzfreie Vermögen des Zahnarztes (OLG Koblenz v. 29.10.2020 – 1 U 209/17).

Die Freigabeerklärung hat konstitutive Wirkung; sie setzt die genannten Vorschriften endgültig und unbedingt außer Kraft. Die Freigabeerklärung kann ebenso wie deren gerichtliche Unwirksamkeitserklärung nur für die Zukunft Wirkung entfalten. Einmal entstandene Masseverbindlichkeiten können nicht im Wege der Freigabeerklärung beseitigt werden (vgl. BGH v. 02.02.2006 – IX ZR 46/05).

Neuerwerb gehört nicht zur Masse

Gegenstände, die der Schuldner mit Erträgen aus der freigegebenen selbständigen Tätigkeit zu deren Ausübung erwirbt, gelten nicht als zur Masse gehöriger Neuerwerb (LG Duisburg v. 17.05.2018 – 8 O 182/17).

Abtretung von Einkünften aus der freigegebenen Tätigkeit

Hat der Schuldner seine künftigen Einkünfte aus einer selbständigen Tätigkeit vor Verfahrenseröffnung wirksam abgetreten, so erstreckt sich diese Abtretung nicht auf die während des eröffneten Insolvenzverfahrens anfallenden Einkünfte. Dies verhindert § 91 InsO. Die Abtretung ist erst ab der Beendigung des Insolvenzverfahrens zu berücksichtigen. Dies gilt auch dann, wenn die selbständige Tätigkeit durch den Insolvenzverwalter wieder freigegeben wird. Der BGH begründet dies u.a. unter Hinweis auf die Intention des Gesetzgebers, der mit Hilfe von § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO eine Rechtsgrundlage statuieren wollte, um den Schuldner bereits während des laufenden Insolvenzverfahrens zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit zu motivieren und zugleich eine Gefährdung der Masse zu verhindern (BT-Drucks. 16/3227, S. 11). Dadurch sollte das anerkennungswürdige Interesse des Schuldners, sich durch eine gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit eine neue wirtschaftliche Existenz zu schaffen, gefördert werden. Als Weg, dem Insolvenzschuldner die Möglichkeit einer selbständigen Tätigkeit außerhalb des Insolvenzverfahrens zu eröffnen, hat der Gesetzgeber eine Art "Freigabe" des Vermögens, das der gewerblichen Tätigkeit gewidmet ist, einschließlich der dazu gehörenden Vertragsverhältnisse vorgesehen. Infolge der Freigabe geht die Verfügungsbefugnis an von der Freigabe erfassten Vermögenswerten von dem Insolvenzverwalter unmittelbar ohne die Möglichkeit eines Zwischenerwerbs Dritter auf den Schuldner über. Zwar kann der Schuldner über Forderungen aus der freigegebenen Tätigkeit nach eigenem Ermessen – auch zugunsten eines durch § 91 Abs. 1 InsO an einem Forderungserwerb gehinderten Zessionars – verfügen. Die Anwendung der Vorschrift des § 91 Abs. 1 InsO stellt aber sicher, dass vor Verfahrenseröffnung bewirkte Verfügungen des Schuldners nicht gegen dessen Willen nach der Freigabe zu einer Auszehrung des Vermögens aus der selbständigen Tätigkeit führen. Nur durch die umfassende und effektive Freigabe des Vermögens an den Schuldner ohne die Möglichkeit eines durch § 91 Abs. 1 InsO versagten vorrangigen Zwischenerwerbs der Altgläubiger kann der Zweck des § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO, dem Schuldner einen wirtschaftlichen Neuanfang außerhalb des Insolvenzverfahrens zu ermöglichen, umgesetzt werden (BGH v. 06.06.2019 – IX ZR 272/17 unter Aufgabe von BGH v. 18.04.2013 – IX ZR 165/12).

Zahlungen in die Masse

Aufgrund der in § 35 Abs. 2 InsO normierten Anwendbarkeit des § 295a InsO hat der Schuldner denjenigen Betrag an die Masse abzuführen, der dem pfändbaren Einkommen entspricht, das er im Rahmen eines angemessenen Dienstverhältnisses erzielen würde. Grundlage der abzuführenden Beträge ist der durch die selbständige Tätigkeit erzielte Gewinn, Maßstab aber das fiktive Nettoeinkommen aus einer angemessenen abhängigen Beschäftigung (BGH v. 13.06.2013 – IX ZB 38/10). Die Zahlungen sind kalenderjährlich bis zum 31.01. des Folgejahres zu leisten (§ 295a Abs. 1 Satz 2 ZPO). Auf Antrag des Schuldners stellt das Gericht den Betrag fest, der den Bezügen aus dem zugrunde zu legenden Dienstverhältnis entspricht. Der Schuldner hat die Höhe der Bezüge, die er aus einem angemessenen Dienstverhältnis erzielen könnte, glaubhaft zu machen (§ 295a Abs. 2 InsO).

Angemessenes Dienstverhältnis

Angemessen ist nur eine dem Schuldner mögliche abhängige Tätigkeit. Der Umstand, dass der Schuldner das Renteneintrittsalter erreicht hat, schließt diese Möglichkeit nicht aus. Die Abführungspflicht nach § 35 Abs. 2 Satz 2 InsO soll verhindern, dass die Freigabe der selbständigen Tätigkeit des Schuldners zu einer Besserstellung der Selbständigen gegenüber den abhängig Beschäftigten führt. Der Schuldner, der bereits das Rentenalter erreicht hat, ist grundsätzlich nicht verpflichtet, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Geht er aber ein abhängiges Dienstverhältnis ein, fallen Einkünfte, welche die Pfändungsfreigrenzen übersteigen, in die Insolvenzmasse. Pfändbar ist dabei in Anwendung des § 850a Nr. 1 ZPO nur die Hälfte der erzielten Einkünfte (vgl. BGH v. 26.06.2014 – IX ZB 87/13). Entsprechende Beträge soll auch ein Selbständiger nach der Freigabe seiner Tätigkeit an die Masse abführen. Entscheidend ist in beiden Fällen die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit. Unerheblich ist, ob der Schuldner bereits rentenberechtigt war. Eine Abführungspflicht scheidet allerdings aus, wenn der Gewinn aus der selbständigen Tätigkeit unterhalb des pfändbaren Betrags bei abhängiger Tätigkeit liegt (BGH v. 12.04.2018 – IX ZB 60/16).

Anspruch der Insolvenzmasse

Der Verwalter bzw. die Masse hat einen durchsetzbaren Zahlungsanspruch gegen den Schuldner. Der wegen der Freigabe der selbständigen Tätigkeit des Schuldners von diesem an die Masse abzuführende Betrag ist vom Insolvenzverwalter auf dem Prozessweg geltend zu machen. Der Schuldner ist allerdings nur dann verpflichtet, nach § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295a Abs. 1 InsO etwas an die Insolvenzmasse abzuführen, wenn er tatsächlich einen Gewinn aus der selbständigen Tätigkeit erzielt hat, der den unpfändbaren Betrag bei (vergleichbarer) unselbständiger Tätigkeit übersteigt. Die Abführungspflicht ist zudem nach dem Maßstab des § 295a Abs. 1 InsO der Höhe nach beschränkt auf den pfändbaren Betrag, den er bei unselbständiger Tätigkeit erzielen würde (BGH v. 13.03.2014 – IX ZR 43/12; a.A. OLG Brandenburg v. 17.04.2013 – 7 U 77/12).

Verletzung der Zahlungspflicht

Leistet der Schuldner die Zahlungen nicht, verletzt er damit die ihm nach § 97 Abs. 2 InsO während des eröffneten Verfahrens obliegende Mitwirkungspflicht und verwirklicht den Versagungsgrund des § 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO (BGH v. 13.06.2013 – IX ZB 38/10). Im Rahmen des § 35 Abs. 2 InsO stellt die Zahlungsobliegenheit eine Anspruchsgrundlage dar, die der Insolvenzverwalter geltend zu machen hat.

Rechtslage in Altverfahren

In Verfahren, deren Eröffnung vor dem 01.10.2020 beantragt wurde, kommt die bisherige Version des § 295 Abs. 2 InsO zur Anwendung. Danach wird die Höhe des an die Insolvenzmasse abzuführenden Betrags letztlich im Rahmen der Zahlungsklage bestimmt, die der Insolvenzverwalter gegen den Insolvenzschuldner vor dem Prozessgericht zur führen hat. Auch ist kein fester Termin bestimmt, zu dem die Zahlungen spätestens an die Masse zu leisten sind. Der Schuldner ist dem Insolvenzverwalter gegenüber umfassend auskunftspflichtig hinsichtlich der Umstände, die für die Ermittlung des fiktiven Maßstabs erforderlich sind, aus denen sich die ihm mögliche abhängige Tätigkeit und das anzunehmende fiktive (Netto-)Einkommen ableiten lassen (BGH v. 13.03.2014 – IX ZR 43/12; LG Hamburg v. 02.06.2017 – 330 O 259/16).