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Hohe Hürden für Sorgerechtsentzug

Beim Entzug bzw. einer verweigerten Rückübertragung des Sorgerechts muss das Familiengericht darlegen, dass das Kindeswohl bei den Eltern mit hinreichender Sicherheit nachhaltig gefährdet ist. Dabei dürfen sich die Gerichte nicht auf Gutachten berufen, die sich an einem Idealbild elterlicher Erziehungsleistung orientieren. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden.

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Zurückweisung ihres Antrags auf Rückübertragung der elterlichen Sorge für ihre beiden 2003 und 2008 geborenen Kinder, mit deren Vater sie nicht verheiratet war. Sie lebten mit den Kindern in einem gemeinsamen Haushalt. Der Beschwerdeführerin stand die elterliche Sorge allein zu. Seit 2007 kam es immer wieder zu Gefahrenmeldungen an das Jugendamt, weil der Vater gegenüber der Beschwerdeführerin gewalttätig war. Auch das ältere Kind wurde vom Vater verletzt, als es die Mutter schützen wollte. Nach der Trennung erwirkte die Beschwerdeführerin gegen den Vater ein gewaltschutzrechtliches Näherungsverbot.

Im April 2011 beantragte das Jugendamt die Entziehung des Sorgerechts für die beiden Kinder. Ein vom Gericht eingeholtes Gutachten kam im Februar 2014 zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Belastungen durch die frühere Beziehung zum Vater nicht in der Lage sei, den Kindern die notwendigen Hilfen und den erforderlichen Halt zu geben. Im Mai 2014 entzog ihr das Amtsgericht die elterliche Sorge für beide Kinder. Seitdem leben sie in einem heilpädagogisch-therapeutischen Kinder- und Jugendhaus und erhalten dort mehrere Therapien. Umgangskontakte mit der Beschwerdeführerin finden regelmäßig statt.

Im Dezember 2014 beantragte die inzwischen umgezogene Beschwerdeführerin beim nun zuständigen Amtsgericht die Rückübertragung der elterlichen Sorge, wobei sie im Wesentlichen eine nicht tragfähige Begründung der Sorgerechtsentziehung und erhebliche formale und inhaltliche Mängel des Sachverständigengutachtens geltend machte. Das Jugendamt befürwortete eine weitere Fremdunterbringung der Kinder. Das Amtsgericht wies den Antrag der Beschwerdeführerin zurück und ordnete unbegleiteten Wochenendumgang im dreiwöchentlichen Rhythmus an.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde. Das OLG wies die Beschwerde ohne erneute mündliche Verhandlung und ohne nähere Begründung unter Bezugnahme auf die seiner Ansicht nach zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung zurück. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG.

Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Das BVerfG nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen, soweit sie das Sorgerecht betreffen, die Beschwerdeführerin in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Dieser garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar, den Art. 6 Abs. 3 GG nur unter strengen Voraussetzungen erlaubt, der allein zu dem Zweck zulässig ist, das Kind vor nachhaltigen Gefährdungen zu schützen, und der einer strikten Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bedarf.

Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigen den Staat, diese von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder sogar selbst diese Aufgabe zu übernehmen (BVerfG, Beschl. v. 29.07.1968 – 1 BvL 20/63, 1 BvL 31/66 und 1 BvL 5/67). Um eine Trennung und ihre Aufrechterhaltung zu rechtfertigen, muss das Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (BVerfG, Beschl. v. 17.02.1982 – 1 BvR 188/80 und Beschl. v. 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14).

Diesbezüglich kommt bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung ein strenger Kontrollmaßstab zur Anwendung, der sich wegen des besonderen Eingriffsgewichts ausnahmsweise auch auf einzelne Auslegungsfehler und auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstrecken kann (BVerfG, Beschl. v. 24.06.2014 – 1 BvR 2926/13).

Weder die Entscheidung des Amtsgerichts noch die des OLG genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Trennung des Kindes von seinen Eltern. Diese Entscheidungen legen nicht direkt dar, dass durch die Rückkehr der Kinder zur Beschwerdeführerin eine die Aufrechterhaltung der Trennung legitimierende nachhaltige Kindeswohlgefahr bestünde, sondern werden vielmehr damit begründet, dass die weitere Fremdunterbringung der Kinder gegenwärtig die allein geeignete Maßnahme sei, um den „Kindesbelangen wirksam Rechnung zu tragen“.

Dies entspricht nicht dem verfassungsrechtlich anzuwendenden Prüfungsmaßstab des § 1696 Abs. 2 BGB, der die Aufrechterhaltung der Fremdunterbringung nur gestattet, wenn weiterhin eine Gefahr für das Kindeswohl besteht. Dass das Gericht nicht diesen strengen Maßstab zugrunde gelegt hat, indiziert auch die Formulierung des Gutachtenauftrags „zur künftigen Regelung der elterlichen Sorge“, ohne das Kriterium der nachhaltigen Kindeswohlgefahr als Untersuchungsmaßstab zu nennen.

Auch das Gutachten ist nicht auf den hier entscheidenden Gesichtspunkt einer nachhaltigen Kindeswohlgefahr, sondern auf die Herstellung möglichst guter Beziehungsbedingungen und einer möglichst kindeswohldienlichen Förderung bezogen. Die auf das Medienverhalten der beiden fremduntergebrachten Kinder konzentrierten Feststellungen der Sachverständigen können ihre Empfehlung, die Fremdunterbringung aufrechtzuerhalten, nicht tragen. Vor allem aber kommen darin eher ihre Idealvorstellungen vom Kindeswohl zum Ausdruck als eine den verfassungsrechtlichen Trennungsvoraussetzungen entsprechende Vorstellung davon, was eine nachhaltige Kindeswohlgefahr ausmacht.

Die Sachverständige legte das Idealbild einer elterlichen Erziehungsleistung und eine explizit genannte „Erziehungseignung“ zugrunde, die aus vielfältigen emotionalen, sozialen und pädagogischen Kompetenzen bestehe und letztlich in eine schicksalhafte Verbindung zwischen Eltern und Kind einmünde.

Die Entscheidungen lenken den Blick vorrangig auf den psychischen Zustand der Beschwerdeführerin und gehen davon aus, dass diese vermutlich unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung leide, die sich nachteilig auf die Bindungen zu den Kindern auswirke. Ihre Erziehungskraft reiche nicht aus, um beiden Kindern sicher bei dem notwendigen psychotherapeutischen Aufarbeitungsprozess zur Seite zu stehen.

Das Amtsgericht hat nicht ausgeführt, dass durch die Rückkehr der Kinder zur Beschwerdeführerin eine die Aufrechterhaltung der Trennung legitimierende nachhaltige Kindeswohlgefahr entstünde. Es begründet seine Entscheidung vielmehr damit, dass die weitere Fremdunterbringung der Kinder gegenwärtig die allein geeignete Maßnahme sei, um den „Kindesbelangen wirksam Rechnung zu tragen“. Das OLG erwähnt zwar § 1696 Abs. 2 BGB, setzt sich jedoch nicht mit dem Erfordernis einer Kindeswohlgefährdung auseinander, weil es lediglich formelhaft auf die seiner Auffassung nach zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts und der Sachverständigen verweist.

Die Einschätzungen der Sachverständigen sind vage und bleiben zu spekulativ, als dass daraus mit hinreichender Sicherheit auf die Unfähigkeit der Beschwerdeführerin geschlossen werden könnte, ihren Kindern die aus Sicht der Sachverständigen erforderlichen Aufarbeitungsprozesse zu ermöglichen.

Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf den Verstößen gegen das Elternrecht der Beschwerdeführerin, weil die gem. § 1696 Abs. 2 BGB strenge Prüfung – konkrete Auseinandersetzung mit dem Einzelfall – nicht durchgeführt wurde. Deswegen kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gerichte bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls von einer die Entziehung des Sorgerechts aufrechterhaltenden Entscheidung abgesehen hätten.

Folgerungen aus der Entscheidung

Diese Entscheidung verdeutlicht erneut, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Trennung des Kindes von seinen Eltern sehr hoch und nur dann erfüllt sind, wenn das Fehlverhalten der Eltern ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigen den Staat, diese von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten.

Zur Ausübung des Wächteramts des Staates gehört nicht, gegen den Willen der Eltern für die bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Die primäre Erziehungspflicht und Entscheidungszuständigkeit liegen bei den Eltern. Ein staatlicher Eingriff in dieses Elternrecht muss somit von jeder in diese Entscheidung einbezogenen Instanz im Einzelfall und erschöpfend geprüft und auch im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit abgewogen werden. Nur dann wird dem Kindeswohl – wie angestrebt – Rechnung getragen.

Praxishinweis

Zur fachlichen Unterstützung des Gerichts bei dem Prüfungs- und Abwägungsprozess werden häufig Gutachten in Auftrag gegeben. Die darin getroffenen Feststellungen können bei der Beurteilung des Einzelfalls jedoch nur dann tatsächlich helfen, wenn die entscheidenden Fragen vom Gericht zutreffend genannt und formuliert und dann vom Sachverständigen einzelfallbezogen beantwortet werden.

Dabei sind insbesondere Fragen der Trennung des Kindes von seinen Eltern und des Kindeswohls von besonderer Bedeutung. Ihnen sollte gründlich – also möglichst umfassend und in die Tiefe gehend – nachgegangen werden. Die Annahme der inzidenten Bejahung einer nachhaltigen, gegenwärtigen Kindeswohlgefahr im Gutachten wird dabei fernliegen, wenn schon der Gutachtenauftrag des Gerichts nicht konkret auf diese Frage ausgerichtet, diese dem Sachverständigen also nicht als Maßstab seiner Untersuchung vorgegeben worden ist.

BVerfG, Beschl. v. 20.01.2016 - 1 BvR 2742/15

Quelle: Ass. jur. Nicole Seier