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Familienrecht -

Haftung für verspäteten Notarzteinsatz?

Der BGH hat klargestellt, dass bei einer groben Vernachlässigung von Amtspflichten in einem Rettungseinsatz eine Umkehr der Beweislast zu Gunsten des Geschädigten in Betracht kommt. Im Streitfall war für eine Schwangere im kritischen Zustand nicht sofort ein Notarzt entsendet worden - später starb ihr Baby. Laut BGH hätte das Berufungsgericht ein Sachverständigengutachten einholen müssen.

Darum geht es

Die Kläger sind die Eltern und Erben eines am 14.01.2017 geborenen und am 12.02.2018 verstorbenen Kindes. Sie nehmen die beklagten Landkreise und kreisfreien Städte wegen Amtspflichtverletzungen im Zusammenhang mit einem Rettungsdiensteinsatz auf Schmerzensgeld und Schadenersatz in Anspruch.

Die Kläger haben ihren Wohnsitz in einer Gemeinde im Kreis Nordwestmecklenburg. Die Beklagten zu 1 bis 3 und 5 sind umliegende Landkreise beziehungsweise kreisfreie Städte, wobei die Beklagten zu 1 bis 3 in Schleswig-Holstein gelegen sind, die Beklagten zu 4 und 5 in Mecklenburg-Vorpommern. 

Die zu 1 beklagte Hansestadt Lübeck unterhält eine eigene Rettungsleitstelle. Die zu 2 und 3 beklagten Kreise Stormarn und Herzogtum Lauenburg betreiben eine gemeinsame Rettungsleitstelle in Bad Oldesloe, die Beklagten zu 4 und 5, der Kreis Nordwestmecklenburg und die Landeshauptstadt Schwerin, in Schwerin. 

Zwischen der Beklagten zu 1 und dem Beklagten zu 4 bestand eine Vereinbarung über die Leistung von Hilfe durch die Beklagte zu 1 für bestimmte, im Zuständigkeitsbereich des Beklagten zu 4 liegende Ortschaften, zu denen auch die Gemeinde gehört, in der die Kläger wohnten. 

Nach dieser Vereinbarung hatte der Beklagte zu 4 die bei ihm eingehenden Notfallmeldungen unmittelbar an die Leitstelle der Beklagten zu 1 weiterzuleiten, wenn geeignete Rettungsmittel des Beklagten zu 4 nicht zur Verfügung standen. Die Beklagte zu 1 hatte in diesem Fall Rettungsfahrzeuge zu entsenden, sofern bei ihr entsprechende Kräfte verfügbar waren.

Einen Monat vor dem errechneten Geburtstermin des Kindes traten im Januar 2017 bei der Klägerin gegen 22:20 Uhr Schmerzen auf. Der Kläger rief daher um 22:36 Uhr bei der betreuenden Hebamme an, die ihm sagte, die Klägerin müsse sofort in ein Krankenhaus gebracht werden. Der Kläger verständigte daraufhin den Rettungsdienst. Das Gespräch ging um 22:41 Uhr in der Leitstelle Bad Oldesloe ein. 

Der Kläger teilte dem dortigen Disponenten mit, dass die Klägerin starke Schmerzen habe und laut Hebamme sofort in ein Krankenhaus gebracht werden müsse. Der Disponent leitete den Notruf um 22:47 Uhr an die Leitstelle Schwerin weiter. 

Deren Disponent wiederum leitete den Notruf mit der Erklärung an die Leitstelle Lübeck weiter, es gehe um Schmerzen in der Schwangerschaft. Auf die Einschätzung der Hebamme, die Klägerin müsse sofort in ein Krankenhaus gebracht werden, wies er die Leitstelle Lübeck nicht hin.

Der Disponent der Leitstelle Lübeck rief den Kläger an, der ihm mitteilte, dass es um Schmerzen in der Schwangerschaft gehe, ohne auf die Angaben der Hebamme hinzuweisen. Um 22:51 Uhr alarmierte der Disponent der Leitstelle Lübeck einen Rettungswagen, der um 22:53 Uhr ausrückte. 

Das Fahrzeug traf um 23:17 Uhr bei den Klägern ein. Die Anfahrt war aufgrund von Glatteis erschwert. Wegen eines Zusammenbruchs der Klägerin forderte die Besatzung des Rettungswagens um 23:18 Uhr einen Notarzt an, der um 23:30 Uhr bei den Klägern eintraf und um 23:33 Uhr den Transport der Klägerin in das Universitätsklinikum in Lübeck veranlasste. 

Die Klägerin traf dort um 23:49 Uhr ein. Kurz nach Mitternacht wurde das Kind durch Notsectio geboren. Bei der Entbindung wurde festgestellt, dass es zu einer vorzeitigen Plazentaablösung gekommen war. 

Die Notsectio konnte einen erheblichen Gesundheitsschaden aufgrund einer unzureichenden Sauerstoffzufuhr (hypoxisch-ischämische Encephalopathie) nicht mehr verhindern, an dessen Folgen das Kind am 12. Februar 2018 verstarb.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kläger hat keinen Erfolg gehabt. Das Berufungsgericht hat gemeint, nach dem Indikationskatalog der Bundesärztekammer für den Notarzteinsatz habe das Meldebild nicht die sofortige Entsendung eines Notarztes zum Wohnort der Kläger indiziert (OLG Schleswig, Urt. v. 09.11.2023 - 11 U 18/23). 

Die Weiterleitungen der Notfallmeldungen zwischen den Rettungsleitstellen seien nicht zu beanstanden und nicht schadensverursachend. 

Wesentliche Entscheidungsgründe

Der BGH hat auf die Revision der Kläger das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der BGH hat entschieden, dass das Berufungsgericht ein Sachverständigengutachten zu der Frage hätte einholen müssen, ob im konkreten Fall eine Indikation zur sofortigen Entsendung eines Notarztes bestand. 

Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht in Bezug auf das Verhalten der am Rettungsdiensteinsatz beteiligten Leitstellendisponenten einen auf die Kläger übergangenen Amtshaftungsanspruch ihres Kindes gegen die Beklagten verneint hat, halten einer Überprüfung in wesentlichen Punkten nicht stand. 

Das Berufungsgericht hat zwar im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass dem vom Vorstand der Bundesärztekammer als Handreichung für Disponenten in Notdienstzentralen und Rettungsleitstellen beschlossenen Indikationskatalog für den Notarzteinsatz maßgebliche Bedeutung für die Beurteilung der Frage zukommt, ob die Rettungsleitstelle die sofortige Entsendung eines Notarztes zu veranlassen hat. 

Verfahrensfehlerhaft hat es jedoch zu der Frage, ob im konkreten Fall wegen des vom Kläger geschilderten Zustands der Klägerin eine Indikation zur sofortigen Entsendung eines Notarztes bestand, kein Sachverständigengutachten eingeholt. 

Gleiches gilt hinsichtlich der Behauptung der Kläger, der Disponent der Leitstelle Schwerin hätte aufgrund der ihm von der Leitstelle Bad Oldesloe mitgeteilten Informationen zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass die Beiziehung eines Notarztes notwendig sei.

Danach konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Die Sache war zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit das Berufungsgericht die noch erforderlichen Feststellungen treffen kann. 

Für das weitere Verfahren hat der Senat darauf hingewiesen, dass sich das Berufungsgericht, sofern es im wiederöffneten Berufungsverfahren eine oder mehrere schuldhafte Amtspflichtverletzungen bejaht, mit deren Schadensursächlichkeit für den Gesundheitsschaden des Kindes zu befassen haben wird. 

Unter Fortführung seiner Rechtsprechung zur Verletzung besonderer Berufs- und Organisationspflichten zum Schutz von Leben und Gesundheit hat der Senat entschieden, dass zu Gunsten des Geschädigten bei einer groben Vernachlässigung von Amtspflichten in Bezug auf einen Rettungsdiensteinsatz durch Disponenten einer Rettungsleitstelle eine Umkehr der regulären Beweislast in Betracht kommt. 

Die für den Disponenten haftende Körperschaft muss in einem solchen Fall regelmäßig die Nichtursächlichkeit festgestellter Fehler beweisen, die allgemein als geeignet anzusehen sind, einen Schaden nach Art des eingetretenen herbeizuführen.

BGH, Urt. v. 15.05.2025 - III ZR 417/23

Quelle: BGH, Pressemitteilung v. 15.05.2025

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