Zwangsvollstreckung -

Berufsunfähigkeitsrente als Bestandteil der Insolvenzmasse

BGH, Urt. v. 03.12.2009 — IX ZR189/08

Eine nach den Vorschriften des Zwangsvollstreckungsrechts bedingt pfändbare Berufsunfähigkeitsrente fällt insoweit in die Insolvenzmasse, als sie im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung für pfändbar nach den für Arbeitseinkommen geltenden Vorschriften erklärt wird.

Darum geht es
Der Kläger ist Verwalter in dem am 20.07.2005 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen des Ehemannes der Beklagten (fortan Schuldner). Der Schuldner hatte bei der G. Versicherung (nachfolgend Versicherung) eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Hieraus standen ihm im Versicherungsfall jährlich 60.000 EUR, zahlbar in monatlichen Teilbeträgen von jeweils 5.000 EUR zu. Mit schriftlicher Erklärung vom 14.10.2003 übertrug der Schuldner die Rechte aus dieser Versicherung auf die Beklagte. Mit Schreiben vom 02.09.2005 erkannte die Versicherung ihre Leistungspflicht aus der Berufsunfähigkeitsversicherung rückwirkend ab August 2002 an. Sie kündigte an, zum 01.10.2005 die monatlichen Zahlungen aufzunehmen und den in der Vergangenheit aufgelaufenen Betrag an die Beklagte auszuzahlen. Im Januar 2006 erklärte der Insolvenzverwalter die Anfechtung der Abtretung an die Beklagte nach § 134 InsO. Mit der Klage begehrt er die Auskehrung der von der Versicherung an die Beklagte gezahlten Beträge und Rückgewähr der auf sie übertragenen Berufsunfähigkeitsversicherung an die Masse.

Wesentliche Entscheidungsgründe
§ 850b Abs. 1 ZPO ist auch im Insolvenzverfahren mit der Maßgabe anzuwenden, dass bedingt pfändbare Bezüge des Schuldners in die Insolvenzmasse fallen. Dies setzt jedoch voraus, dass dies nach den Umständen des Falles, insbesondere nach der Art des beizutreibenden Anspruchs und der Höhe der Bezüge, der Billigkeit entspricht. Tut es dies nicht, ist die unentgeltliche Übertragung dieser Bezüge anfechtbar.

Billigkeitsprüfung im Insolvenzverfahren
Ansprüche aus einer privaten Berufsunfähigkeitsrente sind nach § 850b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO nur bedingt pfändbar (vgl. BGHZ 70, 206, 207 ff.).
Der Bundesgerichtshof hält es nicht für gerechtfertigt, im Insolvenzverfahren nur § 850b Abs. 1 ZPO, nicht aber § 850b Abs. 2 und 3 ZPO anzuwenden. Dem steht auch nicht entgegen, dass § 850b ZPO in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht ausdrücklich erwähnt wird.
Eine Billigkeitsprüfung, bei der alle in Betracht kommenden Umstände zu würdigen sind, kann es daher auch im Insolvenzverfahren geben. Sie obliegt dem Insolvenzgericht, wenn der Insolvenzverwalter beantragt, bedingt pfändbare Bezüge des Schuldners für vollstreckbar zu erklären, um sie wie Arbeitseinkommen zur Masse zu ziehen.
Streiten Insolvenzverwalter und Schuldner um die Massezugehörigkeit von Einkünften, die unter § 850b Abs. 1 InsO fallen oder ist die Frage der Pfändbarkeit — wie vorliegend — im Rahmen eines Anfechtungsprozesses zu beantworten, kann die Entscheidung auch vom Prozessgericht getroffen werden.

Zweck des § 850b ZPO
Sinn und Zweck des § 850b ZPO gebieten es, die Vorschrift insgesamt im Insolvenzverfahren entsprechend anzuwenden. Die Regelung dient der Existenzsicherung des Schuldners. Die grundsätzliche Unpfändbarkeit kann nur im Einzelfall und unter bestimmten Voraussetzungen nach § 850b Abs. 2 ZPO ganz oder teilweise aufgehoben werden. Sie soll gewährleisten, dass dem Schuldner das Existenzminimum verbleibt (BGHZ 70, 206, 211).
Dieser Zweck schließt es aus, dass Gegenstände des § 850b Abs. 1 ZPO im Insolvenzverfahren uneingeschränkt in die Masse fallen.
Dies wäre mit dem an Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) ausgerichteten Vollstreckungsrecht nicht zu vereinbaren. Dem Schuldner ist zumindest so viel zu belassen, wie er zur Absicherung seines Existenzminimums benötigt (vgl. BGH, Urt. v. 10. 01.2008 — IX ZR 94/06).

Ein weiterer Zweck ist ein angemessener Interessenausgleich zwischen Schuldner und Gläubiger (BGHZ 70, 206, 211 f.). Wenn die Vollstreckung in das sonstige bewegliche Vermögen des Schuldners nicht zu einer Befriedigung geführt hat und die Pfändung der Billigkeit entspricht, sollen bedingt pfändbare Bezüge wie Arbeitseinkommen pfändbar sein. Dies gilt auch im Insolvenzverfahren. Der (drohende) Ausfall der Gläubiger bei ihrer Befriedigung ist dort handgreiflich.

Wertungswiderspruch
Es besteht auch kein überragendes Interesse des Schuldners, das es ausschließt, das Interesse der Gesamtheit der Gläubiger an ihrer Befriedigung zu berücksichtigen.
Es bestünde ein Wertungswiderspruch, wenn der Schuldner in der Individualvollstreckung bedingt pfändbare Bezüge abführen müsste, weil dies der Billigkeit entspricht, diese jedoch in der Gesamtvollstreckung einschränkungslos behalten könnte.
Das Insolvenzverfahren würde sich dann für den Schuldner günstiger darstellen, als die Einzelvollstreckung.
Außerhalb des Verfahrens wäre den Gläubigern der Zugriff auf bedingt pfändbare Bezüge des Schuldners verwehrt, weil sie dem Vollstreckungsverbot des § 89 Abs. 1 InsO unterliegen. Dies würde nach § 294 Abs. 1 InsO auch noch für die gesamte Wohlverhaltensphase gelten. Diese Bevorzugung des Schuldners im Insolvenzverfahren wäre grob unbillig. Die Gläubigerinteressen, denen § 850b ZPO zumindest auch gerecht werden will, kämen überhaupt nicht zum Tragen. Der Grundsatz der gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger würde verletzt

Interessenabwägung
Zwar ist eine Abwägung zwischen den Interessen des Schuldners und den Einzelinteressen der Gläubiger, wie sie § 850b Abs. 2 InsO für die Individualzwangsvollstreckung vorsieht, im Insolvenzverfahren nicht möglich. Abgewogen werden können aber die Interessen des Schuldners gegen das Gesamtinteresse der Gläubiger.
Auch wenn die Art des beizutreibenden Anspruchs hier keine Bedeutung hat, weil es um eine Gesamtvollstreckung geht, sind Billigkeitsentscheidungen möglich. Erforderlich ist eine umfassende und nachvollziehbare Gesamtwürdigung, in die alle in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls einfließen.

Sind keine besonderen Umstände ersichtlich, kann die Pfändbarkeit anhand der Freigrenzen des § 850c Abs. 1 ZPO bestimmt werden. Diese Vorschrift, auf die in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO ausdrücklich verwiesen ist, belegt zudem, dass eine Bestimmung der Pfändbarkeit nach billigem Ermessen dem Insolvenzverfahren durchaus nicht fremd ist.
Auch die Regelung des § 850c Abs. 4 ZPO gilt im Insolvenzverfahren. Danach kann ein Unterhaltsberechtigter bei der Bestimmung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens des Schuldners auf Antrag ganz oder teilweise außer Betracht bleiben, wenn er über eigene Einkünfte verfügt (vgl. BGH, Beschl. v. 06.07.2006 — IX ZB 220/04).

Die am 14.10.2003 erfolgte Übertragung der Versicherungsnehmerstellung ist deshalb durch Rückübertragung auf den Schuldner rückgängig zu machen. Die Masse kann nur im Rahmen des § 850b Abs. 2 ZPO auf die Versicherungsleistungen zugreifen. Das Stammrecht muss dem Schuldner erhalten bleiben und kann nicht auf den Kläger übertragen werden.

Der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch auf Auszahlung der von dem Versicherer an die Beklagte während des Insolvenzverfahrens gezahlten Beträge, soweit diese für pfändbar erklärt werden. Insoweit unterliegen die Zahlungen auch der Anfechtung nach § 134 InsO.

Quelle: Redaktion Deubner - Beitrag vom 05.02.10