Zwangsvollstreckung -

Internationale Zuständigkeit für Insolvenzverfahren

Der EUGH hat entschieden, welches Gericht für ein Hauptinsolvenzverfahren zuständig ist.

Soweit nicht eine ordnungsgemäß begründete Ausnahme vorliegt, ist demnach das Gericht für die Eröffnung des Verfahrens zuständig, in dessen Mitgliedstaat sich der satzungsmäßige Sitz des Schuldners befindet. Das gegenseitige Vertrauen verlangt dabei, dass die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten die Eröffnungsentscheidung ohne Zuständigkeitsprüfung anerkennen, es sei denn, sie verstößt gegen die Grundrechte.

Sachverhalt:

Eurofood, eine Gesellschaft irischen Rechts mit satzungsmäßigem Sitz in Dublin, ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der italienischen Gesellschaft Parmalat SpA. Ihr Hauptgeschäftszweck ist die Beschaffung von Finanzmitteln für den Parmalat-Konzern. Am 24. Dezember 2003 wurde Parmalat in Italien zum Zweck ihrer industriellen Umgestaltung unter die außerordentliche Verwaltung von Herrn Bondi gestellt. Auf Antrag der Bank of America NA vom 27. Januar 2004, Eurofood wegen deren Schulden zu liquidieren, bestellte der High Court (Irland) Herrn Farrell zum vorläufigen Verwalter (provisional liquidator) und übertrug ihm die Befugnis, das Vermögen von Eurofood in Besitz zu nehmen, ihre Geschäfte zu führen, in ihrem Namen ein Bankkonto zu eröffnen und die Dienste eines Anwalts in Anspruch zu nehmen.

Am 9. Februar 2004 wurde Eurofood in Italien unter die außerordentliche Verwaltung von Herrn Bondi gestellt. Am 10. Februar 2004 wurde beim Tribunale civile e penale Parma für den 17. Februar 2004 ein Verhandlungstermin zur Feststellung der Insolvenz von Eurofood anberaumt. Darüber wurde Herr Farrell am 13. Februar 2004 unterrichtet. Am 20. Februar 2004 erklärte sich das genannte Gericht für international zuständig für die Feststellung der Insolvenz dieser Gesellschaft, weil sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen von Eurofood in Italien befinde.

Mit Urteil vom 23. März 2004 entschied der High Court seinerseits, dass das Insolvenzverfahren gegen Eurofood in Irland an dem Tag eröffnet worden sei, an dem die Bank of America NA dies beantragt habe, und dass das genannte Verfahren das Hauptinsolvenzverfahren sei, da sich der Mittelpunkt der Interessen von Eurofood in Irland befinde. Ferner führte er aus, dass der Verfahrensverlauf vor dem italienischen Gericht in Parma es rechtfertige, dass die irischen Gerichte der Entscheidung dieses Gerichts die Anerkennung versagten. Nach Feststellung der Insolvenz von Eurofood beschloss der High Court die Liquidation dieser Gesellschaft und bestellte Herrn Farrell zum Liquidator. Dieses Urteil hat Herr Bondi angefochten.

In diesem Zusammenhang hat der irische Supreme Court dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mehrere Fragen nach der Auslegung der Gemeinschaftsverordnung über Insolvenzverfahren zur Vorhabentscheidung vorgelegt, um u. a. das für die Liquidation von Eurofood zuständige Gericht zu bestimmen.


Entscheidung:

Das für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zuständige Gericht:

Nach der Gemeinschaftsverordnung sind für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens, das sich auf das in allen Mitgliedstaaten belegene Schuldnervermögen erstreckt, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei einer Schuldnergesellschaft wird vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht.

Der Gerichtshof stellt fest, dass sich die genannte Vermutung nur entkräften lässt, wenn objektive und für Dritte feststellbare Elemente belegen, dass in Wirklichkeit die Lage nicht derjenigen entspricht, die die Verortung am genannten satzungsmäßigen Sitz widerspiegeln soll (wie im Fall einer Gesellschaft, die im Gebiet des Mitgliedstaats, in dem sich ihr satzungsmäßiger Sitz befindet, keiner Tätigkeit nachgeht). Wenn eine Gesellschaft ihrer Tätigkeit im Gebiet des Mitgliedstaats, in dem sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, nachgeht, so wird die auf den satzungsmäßigen Sitz abstellende Vermutung nicht dadurch entkräftet, dass ihre wirtschaftlichen Entscheidungen von einer Muttergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat kontrolliert werden oder kontrolliert werden können.

Die Anerkennung der Entscheidung zur Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens durch die Gerichte anderer Mitgliedstaaten:

Der Gerichtshof erinnert daran, dass nach der Verordnung das in einem Mitgliedstaat eröffnete Insolvenzverfahren in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, sobald es im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist (Prioritätsregel). Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verlangt, dass die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten die Entscheidung zur Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens anerkennen, ohne die vom ersten Gericht hinsichtlich seiner Zuständigkeit angestellte Beurteilung überprüfen zu können.

Der Begriff „Eröffnung eines Insolvenzverfahrens" :

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Mechanismus, der die Eröffnung eines einzigen Hauptinsolvenzverfahrens vorsieht, ernstlich gestört werden könnte, wenn die Gerichte der Mitgliedstaaten, bei denen zeitgleich auf die Insolvenz eines Schuldners gestützte Anträge anhängig gemacht werden, während längerer Zeit konkurrierende Zuständigkeiten für sich in Anspruch nehmen könnten. Um die Effizienz dieses Systems zu gewährleisten, entscheidet der Gerichtshof, dass die von einem Gericht eines Mitgliedstaats aufgrund der Insolvenz des Schuldners erlassene Entscheidung, ein in der Gemeinschaftsverordnung vorgesehenes Verfahren zu eröffnen, die den Vermögensbeschlag gegen den Schuldner zur Folge hat und durch die ein Verwalter bestellt wird, eine Eröffnung eines Insolvenzverfahrens darstellt. Vermögensbeschlag bedeutet, dass der Schuldner die Befugnisse zur Verwaltung seines Vermögens verliert.

Gründe für die Nichtanerkennung eines Insolvenzverfahrens:

Der Gerichtshof erinnert daran, dass ein Mitgliedstaat sich weigern kann, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen, soweit diese Anerkennung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen, unvereinbar ist. Im Rahmen eines Insolvenzverfahrens hat der Anspruch der Gläubiger oder ihrer Vertreter auf Teilnahme am Verfahren unter Beachtung des Grundsatzes der Waffengleichheit eine besondere Bedeutung. Daher kann ein Mitgliedstaat einem in einem anderen Mitgliedstaat eröffneten Insolvenzverfahren die Anerkennung versagen, wenn die Eröffnungsentscheidung unter offensichtlichem Verstoß gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör einer von einem solchen Verfahren betroffenen Person ergangen ist.

Quelle: EUGH - Pressemitteilung vom 02.05.06