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Anwendbarkeit britischer Rechtsvorschriften über Unterkapitalisierung

Die britischen Rechtsvorschriften über Unterkapitalisierung sind nur auf rein künstliche steuerliche Konstruktionen anwendbar.

Sachverhalt:

Das britische Steuerrecht enthält Vorschriften zur Bekämpfung von Missbräuchen, mit denen gegen die „Unterkapitalisierung" von Gesellschaften vorgegangen werden soll. Zahlt eine Gesellschaft Zinsen auf ein Darlehen, so können diese Zahlungen von den steuerpflichtigen Gewinnen abgezogen werden. Hingegen sind auf Gewinnausschüttungen Körperschaftsteuervorauszahlungen zu leisten. Bei einer Unterkapitalisierung wird eine Gesellschaft durch Darlehen statt durch Eigenmittel finanziert, um in den Genuss einer günstigeren steuerlichen Behandlung zu kommen. Die genannten Vorschriften, die in verschiedener Ausgestaltung bis 2004 in Kraft waren, beschränken deshalb unter bestimmten Umständen die Abzugsfähigkeit der von britischen Tochtergesellschaften an gebietsfremde Gesellschaften gezahlten Zinsen. Diese Beschränkungen sind nicht auf Gesellschaften anwendbar, die Zinsen an eine gebietsansässige Gesellschaft zahlen.

Von 1988 bis 1995 galt für den Fall der Darlehensgewährung durch eine gebietsfremde Gesellschaft an eine gebietsansässige Tochtergesellschaft, dass alle Zinszahlungen als ausgeschüttete Gewinne behandelt wurden, sofern nicht ein Doppelbesteuerungsabkommen etwas anderes bestimmte. Mit verschiedenen Staaten geschlossene Doppelbesteuerungsabkommen sahen vor, dass die Zinsen dann abzugsfähig waren, wenn ihre Höhe nicht den Betrag überstieg, der ohne eine besondere Beziehung zwischen den Vertragsparteien gezahlt worden wäre.

Für die Zeit von 1995 bis 2004 galt, dass Zinsen, die zwischen Gesellschaften ein und derselben Unternehmensgruppe gezahlt wurden, als ausgeschüttete Gewinne behandelt wurden, soweit sie den Betrag überstiegen, der ohne eine besondere Beziehung zwischen den Gesellschaften gezahlt worden wäre. Diese Vorschriften waren jedoch nicht anwendbar, wenn beide Gesellschaften im Vereinigten Königreich körperschaftsteuerpflichtig waren.

Im Anschluss an ein im Jahr 2002 ergangenes Urteil des Gerichtshofs zu den deutschen Unterkapitalisierungsvorschriften erhoben bestimmte Unternehmensgruppen Klagen auf Rückzahlung und/oder Schadensersatz wegen der steuerlichen Nachteile, die sich für sie aus der Anwendung der britischen Rechtsvorschriften ergeben hatten. Jede dieser Unternehmensgruppen hat eine Tochtergesellschaft im Vereinigten Königreich, der von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft ein Darlehen gewährt worden war.

Die Klagen wurden in einem Verfahren des Typs „Group litigation" über Unterkapitalisierung (Thin Cap Group Litigation) zusammengefasst. Der High Court of Justice hat als Musterverfahren Rechtssachen ausgewählt, die die Unternehmensgruppen Lafarge und Volvo (Muttergesellschaft in einem Mitgliedstaat) sowie Caterpillar und PepsiCo (Muttergesellschaft in einem Drittstaat) betreffen. Er hat dem Gerichtshof verschiedene Fragen nach der Vereinbarkeit der Unterkapitalisierungsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit, vorgelegt.

Entscheidung:

Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass zwar die direkten Steuern in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, dass diese ihre Befugnisse jedoch unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben müssen. Da die Unterkapitalisierungsvorschriften nur auf Fälle Anwendung finden, in denen die Darlehensgeberin einen bestimmenden Einfluss auf die Darlehensnehmerin hat oder ihrerseits von einer Gesellschaft kontrolliert wird, die einen solchen Einfluss hat, sind sie nur im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit zu prüfen.

Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

Der Gerichtshof stellt fest, dass die Behandlung der an eine verbundene Gesellschaft gezahlten Zinsen als ausgeschüttete Gewinne geeignet ist, die steuerliche Belastung der Darlehensnehmerin zu erhöhen. Diese größere Belastung folgt nicht nur daraus, dass der steuerpflichtige Gewinn nicht um den Betrag der gezahlten Zinsen gemindert werden kann, sondern auch daraus, dass die Darlehensnehmerin möglicherweise Körperschaftsteuervorauszahlungen zu leisten hat.

Mit den britischen Unterkapitalisierungsbestimmungen wird je nach dem Ort des Sitzes der Darlehensgeberin eine unterschiedliche Behandlung gebietsansässiger Darlehensnehmerinnen eingeführt. Die Situation einer Gesellschaft, die Zinsen an eine gebietsfremde Gesellschaft zahlt, ist in steuerlicher Hinsicht weniger günstig. Die britischen Unterkapitalisierungsbestimmungen beschränken daher die Niederlassungsfreiheit.

Rechtfertigung der Beschränkung

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass eine nationale Maßnahme, die die Niederlassungsfreiheit beschränkt, gerechtfertigt sein kann, wenn sie sich speziell auf rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen bezieht, mit denen die normalerweise zu entrichtende Steuer umgangen werden soll. Indem die britischen Rechtsvorschriften die Unterkapitalisierungspraxis verhindern, sind sie geeignet, dieses Ziel zu erreichen.

Die Rechtsvorschriften können jedoch nur gerechtfertigt sein, wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken erforderlich ist (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). In diesem Zusammenhang sind nationale Rechtsvorschriften als verhältnismäßig anzusehen, wenn erstens dem Steuerpflichtigen, ohne ihn übermäßigen Verwaltungszwängen zu unterwerfen, die Möglichkeit eingeräumt wird, Beweise für wirtschaftliche Gründe für den Abschluss eines Geschäfts beizubringen, und wenn zweitens die gezahlten Zinsen nur insoweit in ausgeschüttete Gewinne umqualifiziert werden dürfen, als sie den Betrag übersteigen, der ohne eine besondere Beziehung zwischen den Vertragspartnern vereinbart worden wäre.

Nach den Feststellungen des Gerichtshofs erfüllten die zwischen 1988 und 1995 geltenden britischen Rechtsvorschriften diese Voraussetzungen in den Fällen, in denen kein Doppelbesteuerungsabkommen anwendbar war, nicht.

Die zweite Voraussetzung war jedoch in den Fällen, in denen ein Doppelbesteuerungsabkommen anwendbar war, sowie in den Jahren 1995 bis 2004 erfüllt. Insoweit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die britischen Rechtsvorschriften die erste Voraussetzung erfüllten und den betroffenen Gesellschaften die Möglichkeit boten, Beweise für wirtschaftliche Gründe für die betreffenden Geschäfte beizubringen.

Anwendung auf Unternehmensgruppen, bei denen die Muttergesellschaft in einem Drittstaat ansässig ist

Die Niederlassungsfreiheit ist im Rahmen der Anwendung der Unterkapitalisierungsbestimmungen auf einen Fall, in dem die Muttergesellschaft in einem Drittstaat ansässig ist, nicht betroffen.

Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer und Schadensersatz

Der Gerichtshof weist schließlich darauf hin, dass die Einzelnen, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts Steuern erhoben hat, einen Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer und der Beträge haben, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Steuer gezahlt worden sind.

Hierzu gehören jedoch nicht andere Kosten, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Steuer entstanden sind, sondern auf Entscheidungen der Gesellschaften beruhen, zum Beispiel der Schaden, der einer Gesellschaft dadurch entstanden ist, dass sie eine Finanzierung durch Eigenmittel durch eine solche durch Darlehenskapital ersetzt hat. Bei diesen Kosten hat das nationale Gericht zu bestimmen, ob sie finanzielle Einbußen darstellen, die aufgrund eines dem Vereinigten Königreich zuzurechnenden Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind.

Bei der Beurteilung, ob der Verstoß schwerwiegend genug ist, um die Haftung eines Mitgliedstaats auslösen zu können, hat das nationale Gericht zu berücksichtigen, dass die Folgen, die sich aus den durch den EG-Vertrag gewährleisteten Verkehrsfreiheiten ergeben, in einem Bereich wie der direkten Besteuerung erst nach und nach deutlich geworden sind und dass die Problematik der Unterkapitalisierung vom Gerichtshof bis zum Urteil Lankhorst-Hohorst tatsächlich noch nicht behandelt worden war.

Quelle: EUGH - Pressemitteilung vom 13.03.07