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EU-Recht zur Familienzusammenführung nicht zu beanstanden

Der EUGH hat eine Klage gegen die Richtlinie über das Recht von Drittstaatsangehörigen auf Familienzusammenführung abgewiesen.

Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat demnach die von den Grundrechten vorgegebenen Grenzen nicht überschritten, indem er es den Mitgliedstaaten, in denen besondere Rechtsvorschriften bestanden oder die solche besonderen Rechtsvorschriften zu erlassen wünschten, erlaubt hat, bestimmte Aspekte des Rechts auf Zusammenführung abzuwandeln.

Hintergrund:

Am 22. September 2003 erließ der Rat eine Richtlinie, mit der die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, festgelegt werden. Diese Richtlinie sieht u. a. vor, dass ein Drittstaatsangehöriger, der rechtmäßig in der Europäischen Gemeinschaft lebt, grundsätzlich einen Anspruch darauf hat, dass der Aufnahmemitgliedstaat den Nachzug seiner Kinder im Rahmen der Familienzusammenführung gestattet. Sie erlaubt es den Mitgliedstaaten jedoch, unter bestimmten Umständen nationale Rechtsvorschriften anzuwenden, die von den Grundsatzregelungen abweichen.

In der siebzehnten und in der achtzehnten Begründungserwägung der Richtlinie wird ausgeführt, dass das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark gemäß dem Protokoll über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands und unbeschadet von Artikel 4 dieses Protokolls sowie dem Protokoll über die Position Dänemarks, die beide dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt sind, sich nicht an der Annahme dieser Richtlinie beteiligen, die für sie nicht bindend oder anwendbar ist.

So kann der Mitgliedstaat bei einem Kind über 12 Jahre, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt, prüfen, ob es ein zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie in seinen nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenes Integrationskriterium erfüllt, bevor er ihm die Einreise und den Aufenthalt gestattet. Im Übrigen können die Mitgliedstaaten verlangen, dass die Anträge betreffend die Familienzusammenführung minderjähriger Kinder gemäß den im Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie vorhandenen nationalen Rechtsvorschriften vor Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt werden.

Weiter sieht die Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten verlangen dürfen, dass sich der Zusammenführende während eines Zeitraums, der zwei Jahre nicht überschreiten darf, rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten hat, bevor seine Familienangehörigen ihm nachreisen. Schließlich kann ein Mitgliedstaat eine Wartefrist von höchstens drei Jahren zwischen der Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung und der Ausstellung eines Aufenthaltstitels an Familienangehörige vorsehen, wenn sein bei Annahme der Richtlinie geltendes nationales Recht seine Aufnahmefähigkeit berücksichtigt.


Auffassung des Europäischen Parlaments:

Das Europäische Parlament sieht in diesen Bestimmungen einen Verstoß gegen Grundrechte, insbesondere das Recht auf Achtung des Familienlebens sowie das Diskriminierungsverbot, und hat deshalb beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die vorliegende Nichtigkeitsklage erhoben.


Entscheidung des EUGH:

Zur den Mitgliedstaaten eröffneten Möglichkeit, zu prüfen, ob ein Kind über 12 Jahre, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt, ein Integrationskriterium erfüllt, führt der Gerichtshof aus, dass damit nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens, die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls oder das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen wird.

Er verweist zunächst darauf, dass das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention zu den Grundrechten gehört, die in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden, und dass der Grundsatz der Achtung des Familienlebens auch im Übereinkommen über die Rechte des Kindes und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wird. Diese verschiedenen Texte heben die Bedeutung des Familienlebens für das Kind hervor und empfehlen den Staaten, das Kindeswohl zu berücksichtigen, sie begründen aber für die Mitglieder einer Familie kein subjektives Recht auf Aufnahme im Hoheitsgebiet eines Staates und lassen sich nicht dahin auslegen, dass den Staaten bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung kein Ermessensspielraum verbliebe.

Im vorliegenden Fall wird den Mitgliedstaaten im Rahmen einer Richtlinie, die ihnen präzise positive Verpflichtungen auferlegt, mit der Möglichkeit, zu prüfen, ob ein Kind über 12 Jahre, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt, ein Integrationskriterium erfüllt, ein begrenzter Ermessensspielraum belassen, der nicht anders ist als der, der ihnen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung zu diesem Recht zugestanden wird, um in jedem konkreten Fall die betroffenen Interessen gegeneinander abzuwägen.

Der Gerichtshof bemerkt, dass die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie bei dieser Interessenabwägung dafür Sorge tragen müssen, dass das Wohl minderjähriger Kinder, die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland gebührend berücksichtigt wird. Auch beim Alter eines Kindes sowie dem Umstand, dass es unabhängig von seiner Familie ankommt, handelt es sich um Faktoren, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte herangezogen werden.

Die Wahl des Alters von 12 Jahren schließlich stellt kein Kriterium dar, mit dem gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen würde, da dieses Kriterium auf eine Phase im Leben des minderjährigen Kindes abstellt, in der es bereits über einen verhältnismäßig langen Zeitraum ohne seine Familienmitglieder in einem Drittstaat gelebt hat, so dass eine Integration in ein anderes Umfeld zu mehr Schwierigkeiten führen kann. Dass der Ehegatte und das Kind über 12 Jahre nicht in gleicher Weise behandelt werden, kann nicht als ungerechtfertigte Diskriminierung gegenüber dem minderjährigen Kind angesehen werden. Denn eine Heirat hat gerade die Bildung einer dauerhaften Lebensgemeinschaft zwischen den Ehegatten zum Ziel, während ein über 12 Jahre altes Kind nicht unbedingt lange mit seinen Eltern zusammenleben wird.

Ebenso stellt der Gerichtshof fest, dass die den Mitgliedstaaten eröffnete Möglichkeit, die in der Richtlinie vorgesehenen Bedingungen für die Familienzusammenführung nur auf die Anträge anzuwenden, die gestellt wurden, bevor die betreffenden Kinder das fünfzehnte Lebensjahr vollendet haben, nicht gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens, die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls oder das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstößt.

Der Gerichtshof legt dar, dass diese Bestimmung nicht so ausgelegt werden kann, als würde sie es den Mitgliedstaaten verbieten, einen Antrag in Bezug auf ein über 15 Jahre altes Kind zu prüfen, oder sie dazu ermächtigen, von der Prüfung abzusehen. Denn sie bewirkt zwar, dass ein Mitgliedstaat vorsehen kann, dass die von minderjährigen Kindern über 15 Jahre gestellten Anträge nicht den allgemeinen Bedingungen nach der Richtlinie unterliegen, doch bleibt der Mitgliedstaat verpflichtet, den Antrag im Hinblick auf das Kindeswohl und im Bemühen um eine Förderung des Familienlebens zu prüfen.

Zur Befugnis der Mitgliedstaaten, die Familienzusammenführung um zwei oder gegebenenfalls drei Jahre zu verzögern, führt der Gerichtshof aus, dass sie es ermöglicht, sich zu vergewissern, dass die Familienzusammenführung unter guten Voraussetzungen stattfindet, nachdem der Zusammenführende so lange im Aufnahmestaat gelebt hat, dass eine stabile Ansiedlung und ein gewisses Integrationsniveau angenommen werden können. In diesem Rahmen kann insbesondere die Aufnahmefähigkeit des Mitgliedstaats einer der Faktoren sein, die bei der Prüfung eines Antrags berücksichtigt werden, doch lässt sich dieses Kriterium nicht dahin auslegen, dass damit ein wie auch immer geartetes Quotensystem oder eine ohne Rücksicht auf die besonderen Umstände der spezifischen Fälle vorgeschriebene dreijährige Wartefrist zugelassen würde. Bei der entsprechenden Analyse müssen die Mitgliedstaaten außerdem dafür sorgen, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.

Folglich verstößt die Richtlinie nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens, die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls oder das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, und zwar weder als solche noch insofern, als sie die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit zu einem derartigen Vorgehen ermächtigt.

Quelle: EUGH - Pressemitteilung vom 27.06.06