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Mitgliedstaatliche Haftung

Ein Mitgliedstaat haftet für Schäden, die dem Einzelnen durch die einem obersten Gericht zuzurechnenden offenkundigen Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind.

Diese Haftung kann nicht auf Fälle von Vorsatz oder grob fehlerhaftem Verhalten des Richters begrenzt werden, wenn diese Begrenzung dazu führen würde, dass die Haftung in Fällen ausgeschlossen ist, in denen ein offenkundiger Verstoß gegen das anwendbare Recht begangen wurde. Die Mitgliedstaaten haften auch dann, wenn sich der offenkundige Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht aus einer Auslegung von Rechtsvorschriften oder einer Sachverhalts- und Beweiswürdigung ergibt.

1981 verklagte das Seeschifffahrtsunternehmen Traghetti del Mediterraneo (TDM) ein konkurrierendes Unternehmen vor dem Tribunale Neapel. TDM wollte den Schaden ersetzt haben, den die Wettbewerberin ihr zugefügt hatte, nachdem diese dank des Erhalts staatlicher Subventionen ihre Dienste zu Niedrigpreisen anbieten konnte.

TDM machte insbesondere geltend, dass das streitige Verhalten einen Akt unlauteren Wettbewerbs sowie einen nach dem EG-Vertrag verbotenen Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstelle.

Die Schadensersatzklage wurde von allen mit der Rechtssache befassten italienischen Gerichten abgewiesen. Der Insolvenzverwalter der TDM, die sich inzwischen in Liquidation befand, war der Ansicht, dass diese Urteile auf einer falschen Auslegung der Gemeinschaftsregeln beruhen und verklagte daraufhin die Italienische Republik vor dem Tribunale Genua auf Schadensersatz.

Das Tribunale Genua richtet im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Frage an den Gerichtshof, ob das Gemeinschaftsrecht und insbesondere die vom Gerichtshof im Urteil Köbler 1 vom 30.09.2003 (Az. C-224/01) aufgestellten Grundsätze einer nationalen Regelung wie dem italienischen Gesetz entgegenstehen, das zum einen jegliche Haftung des Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einen von einem letztinstanzlichen nationalen Gericht begangenen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, ausschließt, wenn sich dieser Verstoß aus einer Auslegung von Rechtsvorschriften oder einer Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch dieses Gericht ergibt, und zum anderen diese Haftung im Übrigen auf Fälle von Vorsatz und grob fehlerhaftem Verhalten des Richters begrenzt.

In seiner Entscheidung erinnert der EuGH zunächst daran, dass der Grundsatz, dass ein Mitgliedstaat zum Ersatz der Schäden verpflichtet ist, die dem Einzelnen durch diesem Mitgliedstaat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, für jeden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht unabhängig davon gilt, welches Organ dieses Staates durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß begangen hat.

Er weist anschließend darauf hin, dass die entscheidende Rolle, die die rechtsprechende Gewalt beim Schutz der sich für den Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Rechte spielt, geschwächt würde, wenn der Einzelne nicht unter bestimmten Voraussetzungen eine Entschädigung für die Schäden erlangen könnte, die durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, der einem letztinstanzlichen Gericht eines Mitgliedstaats zuzurechnen ist. In einem solchen Fall muss der Einzelne die Möglichkeit haben, den Staat haftbar zu machen, um einen rechtlichen Schutz seiner Rechte zu erlangen.

Die Auslegung von Rechtsvorschriften sowie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung stellen wesentliche Aspekte der Rechtsprechungstätigkeit dar; beide können in bestimmten Fällen zu einem offenkundigen Verstoß gegen das geltende Recht führen.

Jede Möglichkeit einer Haftung des Staates auszuschließen, weil der dem nationalen Gericht vorgeworfene Verstoß die Auslegung von Rechtsvorschriften oder die von diesem Gericht vorgenommene Sachverhalts- oder Beweiswürdigung betrifft, würde den Grundsatz der Staatshaftung seines Inhalts berauben und dazu führen, dass der Einzelne keinerlei gerichtlichen Schutz genösse, wenn ein letztinstanzliches nationales Gericht einen offensichtlichen Fehler bei dieser Auslegung oder Würdigung beginge.

Zur Begrenzung der Haftung des Staates auf Fälle von Vorsatz oder grob fehlerhaftem Verhalten des Richters erinnert der Gerichtshof daran, dass der Staat nur in dem Ausnahmefall, dass das letztinstanzliche nationale Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat, für Schäden haftet, die einem Einzelnen durch diesem Gericht zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind.

Ob ein offenkundiger Verstoß vorliegt, bemisst sich insbesondere nach einer Reihe von Kriterien wie dem Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, der Entschuldbarkeit des unterlaufenen Rechtsirrtums oder der Verletzung der Vorlagepflicht durch das in Rede stehende Gericht. Ein solcher Verstoß wird jedenfalls angenommen, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes offenkundig verkennt.

Folglich kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass das nationale Recht die Kriterien hinsichtlich der Natur oder des Grades des Verstoßes festlegt, die erfüllt sein müssen, damit der Staat für einen einem letztinstanzlichen nationalen Gericht zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht haftet, doch können mit diesen Kriterien auf keinen Fall strengere Anforderungen aufgestellt werden, als sie sich aus der Voraussetzung eines offenkundigen Verstoßes gegen das geltende Recht ergeben.

Die Haftung des Staates auf Fälle von Vorsatz oder grob fehlerhaftem Verhalten des Richters zu begrenzen, verstößt somit gegen das Gemeinschaftsrecht, sofern diese Begrenzung dazu führt, dass diese Haftung in Fällen ausgeschlossen ist, in denen ein offenkundiger Verstoß gegen das anwendbare Recht begangen wurde.

Quelle: EuGH - Pressemitteilung vom 13.06.06