Verkehrsrecht -

Ausnahme von der Rückschaupflicht beim Abbiegen

Urteilsbesprechung: Ein Linksabbieger muss seiner Rückschaupflicht nach „hinten rechts“ nicht nachkommen, wenn er aufgrund der Örtlichkeiten nicht mit von dort kommenden Fahrzeugen rechnen muss.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO muss der Abbiegende vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr achten. Das bedeutet eine doppelte Absicherungspflicht des Verkehrsteilnehmers durch den Blick in den Innen- oder Seitenspiegel und den Blick über die Schulter(n). Diese Pflicht entfällt, wenn und soweit eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist.

Das AG Kiel hat in seinem Urteil vom 25.08.2009 ausgeführt, dass den Fahrer eines Lkws im Rahmen seiner letzten Rückschaupflicht zwar grundsätzlich eine Verpflichtung treffe, in die Richtung zurückzuschauen, in die sein Fahrzeug ausschwenkt. Dies gelte aber dann nicht, wenn der Abbiegende mit Rechtsüberholern nicht zu rechnen braucht, weil die Straße von vornherein keine gesonderte, weitere Geradeausspur hat und die Fahrbahn zum Rechtsvorbeifahren im Übrigen zu schmal ist.

Dem Urteil des AG Kiel lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der beklagte Lkw-Fahrer wollte mit seinem Lkw nebst Anhänger nach links abbiegen. Er musste zunächst anhalten, um Gegenverkehr passieren zu lassen. Bei der vom Beklagten genutzten Fahrbahn handelte es sich um eine asphaltierte Fahrbahn, nutzbar in beide Fahrtrichtungen mit einer seitlichen Fahrbahnmarkierung in Form einer durchgezogenen Linie. Die Fahrbahn hatte eine Breite von 8,30 m. Jenseits der seitlichen Fahrbahnbegrenzung befindet sich beidseitig ein Radweg, mit jeweils einer Breite von 1,50 m. Der Kläger fuhr hinter zwei weiteren Fahrzeugen rechtsseitig an dem Lkw des Beklagten zu 1. unter Benutzung des Radwegs vorbei. Als der Kläger sich in Höhe der Zugmaschine befand, bog der Beklagte nach links ab, mit der Folge, dass der Ausleger des Lkws die gesamte linke Seite des klägerischen Fahrzeugs beschädigte.

Mit seiner Klage fordert der Kläger unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens in Höhe von 2/3 Schadenersatz in Höhe von 1/3 der ihm entstandenen Schäden.

Das AG Kiel hat die Klage abgewiesen.

Wesentliche Entscheidungsgründe:

Zur Begründung führt das Gericht aus, dass den Beklagten an dem Unfall kein Verschulden treffe. Die sich aus § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO ergebende doppelte Rückschaupflicht entfällt beim Abbiegen, wenn und soweit eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Insbesondere dürfe ein Kraftfahrzeugführer darauf vertrauen, dass ihn ein nachfolgender Kraftfahrer nicht überholt, wenn dies bei dem gebotenen seitlichen Abstand nur durch Inanspruchnahme von abgegrenzten Fahrstreifen (durchgezogene Linie) oder Sperrflächen möglich ist (vgl. BGH, Urt. v. 28.04.1987 – VI ZR 66/86, NJW-RR 1987, 1048). Erst recht gelte dies, wenn das Überholen nur unter Inanspruchnahme von Teilen außerhalb der Fahrbahn - wie hier des parallel laufenden Radwegs - möglich sei.

Ein durch Zeichen 295 (durchgezogene Linie) abgegrenzter Radweg gehöre nicht zur Fahrbahn. Das gleiche gelte, wenn es sich nicht um einen Radweg, sondern um einen entsprechenden abgegrenzten Seitenstreifen handelt (§ 2 Abs. 1 Satz 1 StVO). Danach müsse sich ein Lkw-Fahrer zwar grundsätzlich im Rahmen seiner letzten Rückschaupflicht auch in die Richtung umschauen, in die sein Fahrzeug ausschwenkt. Das gelte aber nur in den Fällen, in denen er mit vorbeifahrenden Fahrzeugen rechnen muss, also in denen eine weitere Fahrspur parallel verläuft oder jedenfalls die Fahrbahn zum Vorbeifahren breit genug ist (LG Passau, Urt. v. 12.03.2007 – 4 O 370/06, DAR 2007, 524). Dies sei im vorliegenden Fall allerdings aufgrund der örtlichen Gegebenheiten nicht der Fall gewesen. Der Beklagte durfte darauf vertrauen, dass keine anderen Fahrzeuge seinen Lkw rechts unter Inanspruchnahme des Radwegs passieren. Er musste in der konkreten Situation als Linksabbieger nach vorne wegen möglichen Gegenverkehrs und nach links hinten absichern, nicht aber nach rechts.

Eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr scheide ebenfalls aus, weil das Verhalten des Klägers sich als grobes Verschulden darstelle. Der Kläger habe entgegen § 2 Abs. 1 StVO nicht die Fahrbahn benutzt, sondern sei teilweise neben der Fahrbahn - auf dem Radweg - an dem Lkw vorbeigefahren. Zudem habe der Kläger auch gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Ihm war ohne weiteres erkennbar, dass der Lkw beim Abbiegen rechts ausscheren würde und dass der Lkw-Fahrer nicht mit Autos rechnen musste, die unter ihn von rechts über den Radweg überholen würden. Dem Kläger hätte sich aufdrängen müssen, dass gerade dieser Unfall drohe, der dann auch geschehen sei. Das grobe Verschulden des Klägers lässt die Betriebsgefahr des Lkws vollständig zurücktreten.

Praxishinweis:

Das Urteil des AG Kiel ist für die tägliche Praxis von besonderer Bedeutung, da es immer wieder zu Unfällen beim Abbiegen kommt. Die Besonderheit des Falls liegt hier darin, dass nicht links, sondern rechts an dem abbiegenden Fahrzeug vorbeigefahren wurde. Zwar gibt es auch Urteile, die den Abbiegenden nicht gänzlich von der Rückschaupflicht entbinden (vgl. BayObLG, Urt. v. 07.07.1980 – 2 St 478/79, VRS 58, 451; OLG Frankfurt, Urt. v. 26.10.1988 – 21 U 131/87, NZV 1989, 155; OLG Celle, Urt. v. 08.12.1977 – 5 U 39/77, VersR 1978, 964). Diese Entscheidungen betreffen aber Fälle, in denen der Überholende entweder das Überholverbot (außerorts bei Dunkelheit) nicht sicher bemerken konnte oder aber in denen die Abbiegeabsicht nicht sicher erkennbar war.

Das AG Kiel weist in seinen Entscheidungsgründen daher zutreffend auf einen Vertrauenstatbestand hin, wonach der Linksabbieger seiner Rückschaupflicht nach rechts hinten nicht nachzukommen braucht, wenn er mit von dort kommenden Fahrzeugen aufgrund der Örtlichkeiten nicht rechnen muss.

Quelle: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht Dr. Stephan Schröder, Kiel - Urteilsbesprechung mit Praxishinweis vom 22.09.09