Familienrecht -

Zurechnung von fiktiven Einkünften insbesondere aus Nebentätigkeiten

Entscheidungsbesprechung: Fiktive Einkünfte aus einer Nebentätigkeit können dem Unterhaltspflichtigen trotz der nach § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB gesteigerten Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern nur dann zugerechnet werden, wenn und soweit ihm eine solche Tätigkeit im Einzelfall zumutbar ist.

Das bedeutet die Entscheidung für Ihr Mandat:

In der anwaltlichen Beratung unverzichtbar ist die sorgfältige Lektüre und Analyse der Lohn- und Gehaltsunterlagen, da daraus erste objektive Anhaltspunkte für die konkrete Arbeitsbelastung des Unterhaltspflichtigen entnommen werden können.

Die Entscheidung: BGH, Urt. v. 03.12.2008 — XII ZR 182/06, DRsp-Nr. 2009/5110

Leitsatz

a) Die Zurechnung fiktiver Einkünfte setzt voraus, dass der Unterhaltspflichtige die ihm zumutbaren Anstrengungen, eine angemessene Erwerbstätigkeit zu finden, nicht oder nicht ausreichend unternommen hat und bei genügenden Bemühungen eine reale Beschäftigungschance bestanden hätte.

b) Trotz der nach § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB gesteigerten Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern können dem Unterhaltspflichtigen fiktive Einkünfte aus einer Nebentätigkeit nur insoweit zugerechnet werden, als ihm eine solche Tätigkeit im Einzelfall zumutbar ist.

Darum geht es

Der BGH hat sich erstmals mit der Frage der Zurechnung von fiktiven Einkünften bei der gesteigerten Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern nach § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB befasst und insbesondere grundsätzliche und klarstellende Ausführungen zu der Obliegenheit, Nebentätigkeiten auszuüben, gemacht.

Der Beklagte ist der Vater des 1990 geborenen Klägers. Der Kläger verlangt Unterhalt i.H.v. 100 % des Regelbetrags der dritten Altersstufe gem. § 2 der früheren Regelbetragsverordnung. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Beklagte könne sich nicht auf eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit berufen. Um den Regelunterhalt sicherzustellen, sei er auch zur Übernahme einer Nebentätigkeit verpflichtet. Dass keine entsprechende Beschäftigungsmöglichkeit bestehe, habe er trotz Beweislast nicht vorgetragen, weshalb von fiktiven Einkünften aus Nebentätigkeit auszugehen sei, die das Berufungsgericht gem. § 287 Abs. 2 ZPO auf 150 € geschätzt hat. Der BGH beanstandet die Feststellungen des Berufungsgerichts zur Anrechnung fiktiver Einkünfte aus einer Nebentätigkeit und hebt das Urteil auf.

Entscheidungsgründe

Einem unterhaltsberechtigten minderjährigen Kind ist ein Unterhaltsbedarf nach dem früheren Regelbetrag bzw. seit Januar 2008 in Höhe des Mindestunterhalts nach § 1612a BGB i.V.m. § 36 Nr. 4c EGZPO zuzubilligen. Aus der gesteigerten Unterhaltspflicht gem. § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB und aus Art. 6 Abs. 2 GG folgt die Verpflichtung der Eltern zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft. Wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese bei gutem Willen ausüben könnte, können deswegen nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden.

Auf der anderen Seite muss die Anrechnung fiktiver Einkünfte aber stets zumutbar sein. Übersteigt die Gesamtbelastung des Unterhaltsschuldners die Grenze der Zumutbarkeit, ist seine dadurch beschränkte Dispositionsfreiheit nicht mehr Bestandteil der verfassungsgemäßen Ordnung und kann vor dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen (BVerfG, Beschl. v. 14.12.2006 - 1 BvR 2236/06, DRsp Nr. 2007/282 = FamRZ 2007, 273).

Anmerkung

Dies ist in einer aktuellen, vom BGH nicht zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erneut bestätigt worden. Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 16.04.2008 - 1 BvR 2253/07 (DRsp Nr. 2008/11227 = FamRZ 2008, 1403) ausgeführt, dass von einem Unterhaltsschuldner - auch unter Berücksichtigung einer zumutbaren Nebentätigkeit - nicht die Steigerung seines Einkommens um nahezu die Hälfte seines bisherigen Einkommens verlangt werden darf, wenn er bereits für das tatsächlich erzielte Einkommen den Einsatz einer Vollzeittätigkeit unter Inkaufnahme von Schichtdienst erbringen muss und das Einkommen unter Berücksichtigung seiner fehlenden Ausbildung und seines Werdegangs auch nicht unterdurchschnittlich ist.

Für die Frage der Zumutbarkeit einer Nebentätigkeit sind zunächst die objektiven Grenzen einer Erwerbstätigkeit unter Berücksichtigung des Umfangs der schon ausgeübten Vollzeittätigkeit zu berücksichtigen. Übt der Unterhaltspflichtige eine Berufstätigkeit aus, die 40 Stunden wöchentlich unterschreitet, kann grundsätzlich eine Nebentätigkeit von ihm verlangt werden. Allerdings ist gem. §§ 3, 9 Abs. 1 ArbZG die wöchentliche Arbeitszeit auf 48 Stunden begrenzt, wobei nach § 2 ArbZG die Arbeitszeiten bei verschiedenen Arbeitgebern zusammenzurechnen sind. Diese Obergrenze der zumutbaren Erwerbstätigkeit gilt auch für die Fälle, in denen der Unterhaltspflichtige nach § 1603 Abs. 2 Satz 1 und 2 BGB gesteigert unterhaltspflichtig ist (vgl. BGH, Urt. v. 20.02.2008 - XII ZR 101/05, DRsp Nr. 2008/6291, FamRZ 2008, 872, 875). Das Berufungsgericht habe nicht hinreichend festgestellt, ob und in welchem Umfang die Vollzeittätigkeit des Beklagten die regelmäßige Arbeitszeit von 40 Wochenstunden erreicht oder gar übersteigt.

Weiterhin ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang es dem Unterhaltspflichtigen unter Abwägung seiner von ihm darzulegenden besonderen Lebens- und Arbeitssituation einerseits und der Bedarfslage des Unterhaltsberechtigten andererseits zugemutet werden kann, eine Nebentätigkeit auszuüben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 05.03.2003 - 1 BvR 752/02, DRsp Nr. 2003/13580 = FamRZ 2003, 661, 662). Dabei ist in die Entscheidung einzubeziehen, dass der Beklagte an den Wochenenden nicht berufstätig und deswegen grundsätzlich samstags nicht an einer Nebentätigkeit gehindert ist. Dafür spricht auch die Tatsache, dass sich sein Arbeitsplatz an seinem Wohnort befindet, wobei zu klären ist, ob auch die Nebentätigkeit am Wohnort des Beklagten möglich wäre. Völlig unberücksichtigt gelassen hat das Berufungsgericht, dass der Beklagte der Vater des Klägers und eines weiteren Kindes ist und Art. 6 Abs. 2 GG ihm nicht nur das Recht zum Umgang einräumt, sondern auch eine entsprechende Pflicht auferlegt (vgl. BGH, Beschl. v. 14.05.2008 — XII ZB 225/06, DRsp Nr. 2008/12031= FamRZ 2008, 1334 f.). Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte allein lebt und auch seinen Haushalt allein führen muss. Es ist nicht ausreichend geprüft worden, ob ihm neben seiner vollschichtigen Erwerbstätigkeit, eventuellen Überstunden, der Kontaktpflege mit seinen Kindern und der Belastung durch die Haushaltsführung überhaupt genügend Zeit für eine Nebentätigkeit an Samstagen verbleibt.

Schließlich setzt die Zurechnung fiktiver Einkünfte neben den nicht ausreichenden Erwerbsbemühungen eine reale Beschäftigungschance voraus. Die Gerichte müssen deswegen prüfen, ob es Nebentätigkeiten entsprechender Art für den Unterhaltspflichtigen überhaupt gibt und der Aufnahme einer solchen Tätigkeit keine rechtlichen Hindernisse entgegenstehen, für die der Unterhaltspflichtige darlegungs- und beweispflichtig ist (BGH, Urt. v. 22.10.1997 — XII ZR 278/95, DRsp Nr. 1998/1782 = FamRZ 1998, 357, 359).

Die Darlegungs- und Beweislast für die Behauptung fehlender realer Beschäftigungschancen trägt der Unterhaltspflichtige (OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.12.2006 - 9 WF 371/06, DRsp Nr. 2007/1315). Fehlende ausreichende Erwerbsbemühungen indizieren die reale Beschäftigungschance (Büttner-Niepmann, NJW 2005, 2357 m.w.N.).

Der BGH beanstandet weiter, dass dem Beklagten Nettoeinkünfte i.H.v. 150 € monatlich angerechnet worden sind, ohne im Einzelnen darzulegen, wie diese sich errechnen. Weil das Berufungsgericht weder den vom Beklagten durch eine Nebentätigkeit erzielbaren Stundensatz noch den Umfang der ihm zugemuteten Nebenerwerbstätigkeit genau bemessen hat, kann die Entscheidung nach dem auch verfassungsrechtlich gebotenen Maßstab der Zumutbarkeit nicht überprüft werden.

Praxishinweis

Nach § 1605 BGB schuldet der Unterhaltspflichtige nach entsprechender Aufforderung (!) eine umfassende Auskunft, die alle Positionen zu enthalten hat, die für die Beurteilung der Bedürftigkeit bzw. Leistungsfähigkeit von Bedeutung sein können (vgl. Viefhues, jurisPK 2009, § 1605 Rdnr. 22 ff.). Mitzuteilen sind aber auch alle Positionen, die die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners beeinträchtigen. Ist der Unterhaltspflichtige vorprozessual ohne Erfolg zur Auskunft aufgefordert worden und legt er - im Rahmen seiner prozessualen Darlegungslast - erst im Prozess dar, dass ihm eine Nebentätigkeit nicht zugemuteten werden kann, kann der - dann unterliegende - Unterhaltsberechtigte die Klageforderung entsprechend reduzieren und sich auf die Kostenvorschrift des § 93d ZPO berufen!

Im Rahmen von Nebentätigkeiten muss jetzt unter Beachtung der neuen Entscheidung des BGH konkret festgestellt werden, welche Tätigkeit ausgeübt werden könnte, wie viel Stunden dafür monatlich aufgewandt werden könnten und wie hoch der konkrete erzielbare Stundenlohn ist. Dabei sind auch ggf. Steuern, Sozialabgaben und berufsbedingte Aufwendungen als Abzugsposten zu berücksichtigen. Denn auch eine Schätzung nach § 287 ZPO darf nicht „völlig in der Luft hängen", sondern muss auf konkreten Grundlagen (sogenannte Anknüpfungstatsachen) basieren (Foerste in Musielak, ZPO, 2008, § 287 Rdnr. 7, 8).

Rechtliche Hindernisse bei einer Nebentätigkeit können sich vor allem aus einer fehlenden Nebentätigkeitsgenehmigung des Arbeitgebers ergeben (Viefhues, jurisPK BGB, 2008, § 1603 Rdnr. 398 ff. m.w.N.). Auf ein generelles Nebentätigkeitsgebot kann sich der Unterhaltspflichtige nicht berufen (vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 09.10.2006 - 4 UF 22/06, DRsp Nr. 2007/2814 = FamRZ 2007, 1038). Aufgrund der Darlegungslast ist es Sache des Pflichtigen, näher auszuführen, welche Bemühungen er unternommen hat, bei seinem Arbeitgeber eine Nebentätigkeitsgenehmigung zu erlangen oder - falls dies nicht geschehen ist – aus welchen Gründen ihm nicht zugemutet werden kann, ein bestehendes Verbot abändern zu lassen oder entsprechende Versuche nicht erfolgversprechend sind (OLG Dresden, Urt. v. 15.03.2007 - 21 UF 518/06, DRsp Nr. 2007/8556 = ZFE 2007, 271).

Weiterführende Informationen finden Sie unter www.rechtsportal.de/familienrecht:

Quelle: Weiterer aufsichtführender Richter am Amtsgericht, Dr. Wolfram Viefhues, Oberhau - Entscheidungsbesprechung vom 25.05.09