Familienrecht -

Rücksicht auf das Kindeswohl

BVerfG, Beschl. v. 20.01.2012 - 1 BvR 153/12

Ist der Ausgang einer gerichtlichen Entscheidung nicht absehbar, so entspricht es dem Interesse des Kindes, wenn das Gericht nach sorgfältiger Prüfung einen Rückführungsanspruch durch einstweilige Anordnung aussetzt.

Darum geht es

Die Beschwerdeführerin ist deutsche Staatsangehörige und Mutter eines im Mai 2009 in Deutschland geborenen Kindes, das die deutsche und kanadische Staatsangehörigkeit hat. Den Vater des Kindes, einen kanadischen Staatsangehörigen, heiratete sie im Oktober 2009 in Kanada. Bis auf zwei Monate nach der Geburt des Kindes und Reisen nach Deutschland, deren Anzahl und Dauer zwischen den Eltern umstritten sind, hielt sie sich mit ihm in Kanada auf. Nach der Trennung Anfang Juli 2011 reiste die Beschwerdeführerin mit dem Kind nach Deutschland und lebt seitdem bei ihrer Mutter. Der Vater des Kindes behielt dessen kanadischen Pass ein, bestätigte ihr jedoch schriftlich, dass sie mit dem Kind reisen dürfe. Umgekehrt hatte die Beschwerdeführerin dem Vater am Flughafen ebenfalls eine solche Bescheinigung unterzeichnet.

Seit August 2011 fordert der Vater von der Beschwerdeführerin die Rückkehr des Kindes nach Kanada, was die Beschwerdeführerin ablehnt. Im August 2011 wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind einstweilen auf eine Ergänzungspflegerin übertragen. Auf Antrag des Vaters verpflichtete das AG Hamm die Beschwerdeführerin zur Herausgabe des Kindes an den Vater zum Zwecke der Rückführung nach Kanada. Ferner wies das AG auf Ordnungsmittel hin und traf Vollzugsanordnungen.

Die dagegen eingelegte Beschwerde wies das OLG Hamm mit der Maßgabe zurück, das Kind bis zum 23.01.2012 freiwillig nach Kanada zurückzuführen. Die Beschwerdeführerin sei zur Rückführung des Kindes verpflichtet, weil die Voraussetzungen der Art. 3 und 12 HKÜ erfüllt seien. Daraufhin beantragt die Beschwerdeführerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung, die angeordnete Rückführung ihres Kindes nach Kanada und die mit der Entscheidung verbundene Feststellung der Zuständigkeit der kanadischen Gerichtsbarkeit für das Sorgerechtsverfahren verletzten sie in ihren Grundrechten aus Art. 6, Art. 2 Abs. 1 und 2 sowie Art. 12 Abs. 1 GG.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet. Ist zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl die vorläufige Regelung eines Zustands geboten, so kann das BVerfG gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG eine einstweilige Anordnung erlassen. Die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragenen Gründe bleiben dabei grundsätzlich außer Betracht.

Ist der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens offen, so sind die Folgen einer nicht ergangenen einstweiligen Anordnung bei später erfolgreicher Verfassungsbeschwerde gegenüber den Nachteilen einer erlassenen einstweiligen Anordnung bei später erfolgloser Verfassungsbeschwerde abzuwägen. Da eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren weittragende Folgen auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen. Das BVerfG entscheidet i.d.R. auf Grundlage festgestellter und gewürdigter Tatsachen.

Im vorliegenden Fall stehen sich die unterschiedlichen Elterninteressen und das Interesse und Wohl des gemeinsamen Kindes gegenüber. Diese Rechte und Interessen muss das Gericht sorgfältig abwägen, unter der Prämisse des möglichen Ausgangs der Verfassungsbeschwerde und der zukünftig daraus resultierenden Konsequenzen für alle Beteiligten. Demnach verbliebe das Kind bei einer Aussetzung der Rückführung durch die einstweilige Anordnung für die Dauer der Aussetzung bei seiner Mutter in Deutschland. Davon wäre aufgrund des Verbleibs bei einer Bezugsperson in einer bekannten Umgebung eine Gefährdung des Kindeswohls nicht zu erwarten. Würde sich die Verfassungsbeschwerde später als erfolgreich erweisen, so hätte sich die Rückführung des Kindes nach Kanada lediglich um die Zeit der Aussetzung verzögert.

Erginge die einstweilige Anordnung, d.h. die Aussetzung der Rückführung, nicht, so würde das Kind umgehend nach Kanada zurückgeführt. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als begründet, so müsste das Kind wieder der Mutter übergeben werden und somit nach Deutschland zurückkehren. Die Aussetzung der Rückführung durch die einstweilige Anordnung verhindert somit einen möglicherweise unnötigen Aufenthaltswechsel des Kindes. Die Nachteile, die bei Erlass der einstweiligen Anordnung drohen, wiegen weniger schwer als diejenigen, die dem Kind und der Beschwerdeführerin bei Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung entstehen könnten.

Quelle: RAin Nicole Seier - vom 04.05.12