Sozialrecht -

Erziehungsgeld für türkische Staatsangehörige

Nach der Entscheidung, dass der Ausschluss in Bayern wohnender türkischer Staatsangehöriger vom bayerischen LErzG gegen das Diskriminierungsverbot des europäisch-türkischen Assoziationsrechts verstößt, hatte sich das Bundessozialgericht nun mit Fragen der Wiedereinsetzung zu beschäftigen.

Dabei hat es in der Sache nicht entschieden, sondern vielmehr einen Anspruch aus dem richterrechtlichen Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruch abgeleitet, der im vorliegenden Zusammenhang neben der Regelung des § 27 SGB X anwendbar sei.

Sachverhalt:

Die seit Jahren in Bayern wohnende Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Für ihr am 21.10.1997 geborenes Kind erhielt sie bis zum 20.10.1999 Bundeserziehungsgeld. Einen Antrag auf Gewährung bayerischen Landeserziehungsgeldes (LErzg) stellte die Klägerin erst im Februar 2002. Auf diese für weitere zwölf Lebensmonate des Kindes vorgesehene Leistung hatten nach dem Wortlaut des Art 1 Abs 1 Satz 1 Nr 5 Bayerisches Landeserziehungsgeldgesetz (BayLErzGG) in der seinerzeit geltenden Fassung (nur) Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum Anspruch. Kurz vor dem LErzg-Antrag der Klägerin hatte das BSG mit Urteil vom 29.1.2002 (BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2) - insbesondere unter Bezugnahme auf ein zum Kindergeldrecht ergangenes Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 4.5.1999 (SozR 3-6935 Allg Nr 4) - entschieden, dass der Ausschluss in Bayern wohnender türkischer Staatsangehöriger vom bayerischen LErzg gegen das Diskriminierungsverbot des europäisch-türkischen Assoziationsrechts verstößt.

Der Beklagte lehnte es ab, Leistungen zu gewähren, weil diese nach Art 3 Abs 2 BayLErzGG höchstens für sechs Monate vor der Antragstellung in Betracht kämen. Das von der Klägerin angerufene SG München hat den Beklagten zur Gewährung von LErzg verurteilt. Die Berufung des Beklagten hatte keinen Erfolg. Nach Auffassung des LSG ist der Klägerin gemäß § 27 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) hinsichtlich der verspäteten Antragstellung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zwar sei seit dem Ende der Antragsfrist mehr als ein Jahr vergangen, die Klägerin sei jedoch im Hinblick auf die seinerzeitige anspruchshemmende Verwaltungs- und Informationspraxis des Beklagten infolge höherer Gewalt gehindert gewesen, vor Ablauf der Jahresfrist ( § 27 Abs 3 SGB X) einen Wiedereinsetzungsantrag zu stellen.

Mit seiner Revision macht der Beklagte im Wesentlichen geltend: Das LSG habe den Begriff der höheren Gewalt iS von § 27 Abs 3 SGB X verkannt. Außerdem hätte es nähere Feststellungen zu anderen Informationsquellen treffen müssen, welche die Klägerin bei größtmöglicher Sorgfalt hätte nutzen können, um sich über die damals streitige LErzg-Anspruchsberechtigung von türkischen Staatsangehörigen zu unterrichten.


Entscheidung:

Die Revision des Beklagten ist zurückgewiesen worden. Der Klägerin steht das beanspruchte Landeserziehungsgeld (LErzg) zu.

Soweit sie mit ihrem Antrag vom 8.2.2002 die Jahresfrist des § 27 Abs 3 SGB X nicht versäumt hat, also für den Leistungszeitraum vom 8.8. bis 20.10.2000, ist ihr gemäß § 27 Abs 1 SGB X Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie infolge der Merkblätter und Broschüren des Beklagten bis Anfang Februar 2002 ohne Verschulden gehindert war, als türkische Staatsangehörige Bayerisches LErzg zu beantragen. Zwar hat das LSG für den davor liegenden Zeitraum (21.10.1999 bis 7.8.2000) angenommen, dass der Klägerin eine frühere Antragstellung infolge höherer Gewalt unmöglich gewesen sei, die diesbezüglichen Tatsachenfeststellungen reichen nach Auffassung des Senats jedoch nicht aus. Insbesondere hat das LSG nicht hinreichend ermittelt, ob die Klägerin nicht bei größtmöglicher Sorgfalt in ihrem Umfeld Informationen darüber hätte erlangen können, dass ihr im Hinblick auf das Urteil des EuGH vom 4.5.1999 - entgegen der gesetzlichen Regelung und der Verwaltungspraxis des Beklagten - doch LErzg zustehen könnte.

Eine Zurückverweisung der Sache ist insoweit nicht erforderlich; denn die Anspruchsberechtigung der Klägerin für die Zeit vom 21.10.1999 bis 7.8.2000 folgt aus einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Dieses richterrechtliche Rechtsinstitut ist im vorliegenden Zusammenhang neben der Regelung des § 27 SGB X anwendbar. Seine Voraussetzungen liegen vor, da die Klägerin durch ein pflichtwidriges Verhalten des Beklagten veranlasst worden ist, von einem rechtzeitigen LErzg-Antrag abzusehen. Sofern sich die Klägerin in Anbetracht der im EuGH-Urteil vom 4.5.1999 enthaltenen zeitlichen Beschränkung nicht auf die Unrichtigkeit des ihr 1997 ausgehändigten Merkblattes berufen kann, liegt die Pflichtverletzung des Beklagten darin, dass er die Klägerin, die damals noch von ihm Bundeserziehungsgeld erhielt, auch nach dem 4.5.1999 nicht auf die zutreffende Rechtslage hingewiesen hat. Sie ist daher so zu stellen, wie sie sozialrechtlich stehen würde, wenn sie richtig beraten worden wäre.

Quelle: BSG - Pressemitteilung vom 02.02.06