Sozialrecht -

Sonderregelung zu "Reichsgebiets-Beitragszeiten"

Verstößt die deutsche Sonderregelung zu „Reichsgebiets-Beitragszeiten“ gegen das Recht der EU-Bürger auf Freizügigkeit?

Diese Frage hat das Berliner Sozialgericht dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Er soll anlässlich zweier aktueller Fälle überprüfen, ob es mit dem EG-Vertrag vereinbar ist, dass die Rente deutscher Rentnerinnen gekürzt wird, weil sie zu ihren Kindern nach Belgien bzw. Großbritannien gezogen sind.

Diese Rentenkürzung ist im deutschen Sozialgesetzbuch (Sechstes Buch) vorgeschrieben. Das Berliner Sozialgericht ist der Auffassung, dass dadurch das Recht der EU-Bürger auf Freizügigkeit verletzt wird.

Sachverhalt:

Die Klägerin im Fall 1 besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie wurde 1923 in der damaligen Tschechoslowakei (Sudetenland) geboren. Im Jahr 1938 wurde das Sudetenland durch das Deutsche Reich völkerrechtswidrig annektiert. Ab 1939 wurden dort die Regeln der deutschen Sozialversicherung angewandt. Die Klägerin arbeitete von 1939 bis April 1945 im Sudetenland und bezahlte von ihrem Lohn Beiträge zur deutschen Rentenversicherung (damals: Reichsversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin). Nach ihrer Ausweisung aus der Tschechoslowakei lebte die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland. Ab 1988 erhielt die Klägerin eine Altersrente, wobei auch die Beitragszeiten aus dem Sudetenland berücksichtigt wurden. Als die Klägerin jedoch im Jahr 2001 zu ihrer Tochter nach Belgien zog, kürzte der Rentenversicherungsträger die Rente um 223 EUR.

Die Behörde berief sich auf eine entsprechende Vorschrift im deutschen Sozialgesetzbuch (§ 272 des Sechsten Buches). Danach kann die Rente bei einem Umzug ins Ausland regelmäßig nur noch aus Versicherungszeiten, die für eine Beschäftigung im heutigen Bundesgebiet geleistet wurden, gezahlt werden. Aus Beiträgen, die seinerzeit in den Teilen des „Reichsgebiets“ gezahlt wurden, die heute nicht zum Bundesgebiet zählen (so genannte „Reichsgebiets-Beitragszeiten“), kann bei gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland keine Rente mehr gezahlt werden.

Das gilt beispielsweise für das damalige Sudetenland (wie im vorliegenden Fall) oder auch für Pommern (wie in dem vom Sozialgericht entschiedenen Parallel-Fall). Diese Gesetzesverschärfung trat 1990 in Kraft und war Teil eines Gesetzespakets, mit dem vor allem verhindert werden sollte, dass die Renten von Vertriebenen und Spät-Aussiedlern ins Ausland „exportiert“ werden. Die Bundesrepublik berief sich in diesem Zusammenhang auf eine Ausnahmeregelung in der Renten-Verordnung der Europäischen Union, die diese Gesetzesverschärfung zuließ.

Nach Auffassung des Berliner Sozialgerichts verstoßen das deutsche Gesetz und diese Ausnahmeregelung gegen das höherrangige Recht der EU-Bürger auf Freizügigkeit, das in Artikel 42 des EG-Vertrags garantiert sei. Eine ähnliche Auffassung wie das Berliner Sozialgericht hatte im Jahr 2002 auch das Bundessozialgericht vertreten und ebenfalls den Europäischen Gerichtshof eingeschaltet. Das dortige Verfahren konnte jedoch nicht abgeschlossen werden, weil die dortige Klägerin verstarb, bevor sich der Europäische Gerichtshof mit dem Fall befasst hatte und Erben das Verfahren nicht weiterführten.

Quelle: SG Berlin - Pressemitteilung vom 17.01.06