Arbeitsrecht, Sozialrecht -

Streikmobilisierung auch auf dem Firmengelände?

Eine streikführende Gewerkschaft darf Arbeitnehmer unmittelbar vor dem Betreten des Betriebes ansprechen, um sie für die Teilnahme am Streik zu gewinnen. Eine solche Ansprache darf ggf. auf einem firmeneigenen Parkplatz erfolgen. Das hat das BAG entschieden. Inwieweit eine Beeinträchtigung des Besitzes vom Arbeitgeber hinzunehmen ist, hängt auch von den örtlichen Verhältnissen ab.

Sachverhalt

Ein Unternehmen betreibt in einem außerörtlich gelegenen Gewerbegebiet ein Logistikzentrum. Zu dem von ihm gepachteten Gelände gehört neben einem Betriebsgebäude, das über einen zentralen Eingang zugänglich ist, ein frei zugänglicher Firmenparkplatz. Dort aufgestellte Schilder weisen darauf hin, dass es sich um ein Privatgrundstück handelt und Unbefugten das Betreten verboten sei.

Im September 2015 wurde das Unternehmen an zwei Tagen bestreikt. Die streikführende Gewerkschaft baute an beiden Tagen auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang Stehtische und Tonnen auf und postierte dort ihre Vertreter sowie streikende Arbeitnehmer.

Diese forderten die Arbeitnehmer zur Teilnahme am Streik auf. Zusätzlich errichtete die Beklagte auf einem Privatgelände neben dem Parkplatz ein Zelt. Zu physischen Zugangsbehinderungen kam es nicht. Das Unternehmen forderte den Ordner der Gewerkschafts mehrfach vergeblich auf, das Betriebsgelände zu verlassen. Ähnliches wiederholte sich bei einem eintägigen Streik im März 2016.

Das Unternehmen hat Klage zum ArbG Berlin erhoben und beantragt, es der Gewerkschaft zu untersagen, auf dem zum Betriebsgelände gehörenden Parkplatz Arbeitskampfmaßnahmen durchzuführen.

Das ArbG Berlin hat der Klage mit Urteil vom 07.04.2016 (41 Ca 15029/15) stattgegeben. Das LAG Berlin-Brandenburg hat das erstinstanzliche Urteil mit Urteil vom 29.03.2017 (24 Sa 979/16) abgeändert und die Klage abgewiesen. Das BAG hat die zugelassene Revision zurückgewiesen.

Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Die Vorschrift des § 862 Abs. 1 Satz 2 BGB gewährt dem Besitzer eines Grundstücks Schutz gegen Besitzstörungen durch verbotene Eigenmacht. An sich sind die Voraussetzungen des Abwehranspruchs erfüllt. Nach § 858 Abs. 1 BGB liegt keine verbotene Eigenmacht vor, wenn das Gesetz die Störung im Besitz gestattet. Im Übrigen unterliegen Besitzschutzansprüche immanenten Schranken nach § 242 BGB, nach denen die Einschränkung von Besitzschutzansprüchen insbesondere im Fall der Kollision mit einem höherwertigen Rechtsgut in Betracht kommt.

Im konkreten Fall ergibt die Abwägung widerstreitender grundrechtlicher Gewährleistungen auf Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite, dass ein Unterlassungsanspruch der Arbeitgeberin aus § 862 Abs. 1 Satz 2 BGB ist im vorliegenden Fall nach § 863 i.V.m. §§ 858 Abs. 1, 242 BGB und Art. 9 Abs. 3 GG ausgeschlossen ist.

Das Streikrecht umfasst die Befugnis einer streikführenden Gewerkschaft, zur Arbeitsniederlegung aufgerufene Arbeitnehmer unmittelbar vor dem Betreten des Betriebes anzusprechen, um sie für die Teilnahme am Streik zu gewinnen. Angesichts der örtlichen Verhältnisse kann die Gewerkschaft nur auf dem Firmenparkplatz vor dem Haupteingang mit den zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmern kommunizieren. Mangels anderer Mobilisierungsmöglichkeiten ist deshalb im vorliegenden Fall die kurzzeitige, situative Besitzstörung der Arbeitgeberin durch die Werbung um Streikteilnahme der Arbeitnehmer zulässig.

Folgerungen aus der Entscheidung

Das BAG setzt mit der vorliegenden Entscheidung nahtlos seine gewerkschaftsfreundliche Spruchpraxis fort, die wohl im Kontext der zunehmenden Handlungsunfähigkeit der Gewerkschaften – auch infolge drastischen Mitgliederschwundes – bewertet werden muss.

Diese sind vielerorts in bestimmten Branchen nicht mehr in der Lage, durch Tarifverträge angemessene Mindestarbeitsbedingungen zu sichern. Hierin begründet sich einerseits die Ursache für regulatorische gesetzgeberische Eingriffe in die Tarifautonomie durch das MiLoG, mutmaßlich aber auch die überzogen gewerkschaftsfreundliche Haltung des BAG. Erinnert sei hier an die „Flashmob“-Entscheidung (BAG, Urt. v. 22.09.2009 – 1 AZR 972/08) und die Zulassung des „Unterstützungstreiks“ (BAG, Urt. v. 19.06.2007 – 1 AZR 396/06).

Der Gesetzgeber flankiert die notwendigen lebenserhaltenden Maßnahmen durch unsägliche Gesetze wie das SokaSiG (BGBI. 1 2017, 1210) oder jüngst ein Gestaltungsmonopol der Gewerkschaften bei sinnvollen rechtlichen Gestaltungen wie z.B. der reinen Beitragszusage („Zielrente“) nach BRSG. In der gegenwärtigen Lage muss sich die Praxis darauf einstellen, dass das BAG den Gewerkschaften bei Arbeitskampfformen nahezu „freie Hand“ lässt.

Praxishinweis

Für die Beurteilung der Zulässigkeit von Streikmaßnahmen auf dem Betriebsgelände ist nach der Entscheidung des BAG immer auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Diese können von den Instanzgerichten unterschiedlich – und revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüfbar – beurteilt werden. Möglicherweise verbleiben den Gewerkschaften im Einzelfall ausreichende Möglichkeiten der Ansprache der Arbeitnehmer außerhalb des Betriebsgeländes.

Dem eher „zivilrechtlich“ geprägten Ansatz des LAG Rheinland-Pfalz („Das Hausrecht des Arbeitgebers ist im Arbeitskampf nicht durch das Streikrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG eingeschränkt. Der Arbeitgeber ist daher nicht verpflichtet, Streikmaßnahmen auf seinem Betriebsgelände zu dulden.“) hat das BAG mit Urteil vom 20.11.2018 (1 AZR 12/17) allerdings eine Absage erteilt. Es hat die stattgebende Berufungsentscheidung aufgehoben.

BAG, Urt. v. 20.11.2018 - 1 AZR 189/17

Quelle: Rechtsanwalt und FA für Arbeitsrecht Dr. Martin Kolmhuber