Familienrecht -

Kein neues Altersphasenmodell

Urteilsanmerkung: Prüfungskriterien einer Billigkeitsentscheidung über eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen nach § 1570 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB.

BGH, Urt. v. 18.03.2009 — XII ZR 74/08, DRsp Nr. 2009/8461

Leitsätze

1. Im Rahmen der Billigkeitsentscheidung über eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen nach § 1570 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB ist stets zunächst der individuelle Umstand zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Kindesbetreuung auf andere Weise gesichert ist oder in kindgerechten Betreuungseinrichtungen gesichert werden könnte. Denn mit der Neugestaltung des nachehelichen Betreuungsunterhalts in § 1570 BGB hat der Gesetzgeber für Kinder ab Vollendung des dritten Lebensjahres den Vorrang der persönlichen Betreuung aufgegeben.

2. Ein Altersphasenmodell, das bei der Frage der Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen allein auf das Alter des Kindes abstellt, wird diesen Anforderungen nicht gerecht.

3. Soweit die Betreuung des Kindes auf andere Weise sichergestellt oder in einer kindgerechten Einrichtung möglich ist, kann einer Erwerbsobliegenheit des betreuenden Elternteils auch entgegenstehen, dass der ihm daneben verbleibende Anteil an der Betreuung und Erziehung des Kindes zu einer überobligationsmäßigen Belastung führen kann (im Anschluss an das Senatsurteil v. 16. 07.2008 — XII ZR 109/05, FamRZ 2008, 1739, 1748 f.).

DARUM GEHT ES

Nach Inkrafttreten des neuen Unterhaltsrechts zeigte sich in Literatur und Rechtsprechung eine deutliche Tendenz, das bisherige Altersphasenmodell des § 1570 BGB in abgeschwächter Form ins neue Recht herüberzuretten („modifiziertes Altersphasenmodell“). Diesen Bestrebungen, die sogar Eingang in verschiedene Unterhaltsleitlinien gefunden haben, hat jetzt der BGH in seiner Entscheidung vom 18.03.2009 —XII ZR 74/08 eine deutliche Absage erteilt.

WESENTLICHE ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Kindesbetreuung in Kindergarten oder Schule
In dem Umfang, in dem das Kind nach Vollendung des dritten Lebensjahres eine kindgerechte Betreuungseinrichtung besucht oder unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse besuchen könnte, kann sich der betreuende Elternteil nicht mehr auf die Notwendigkeit einer persönlichen Betreuung des Kindes berufen. Im Rahmen der Billigkeitsentscheidung über eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts ist deswegen stets zunächst der individuelle Umstand zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Kindesbetreuung auf andere Weise gesichert ist oder in kindgerechten Einrichtungen gesichert werden könnte ( BVerfGE, Beschl. v. 28.02.2007 — 1 BvL 9/04, DRsp Nr. 2007/9431 = FamRZ 2007, 965, 968; OLG Celle, Urt. v. 07.02.2008 — 17 UF 203/07, DRsp Nr. 2009/6082 = FamRZ 2008, 997, 998; OLG München , Urt. v. 04.06.2008 — 12 UF 1125/07, DRsp Nr. 2008/21743 = FamRZ 2008, 1945 f.; vgl. auch Wendl/Pauling, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 7. Aufl., § 4 Rdnr. 67; Viefhues, ZFE 2008, 44, 45; Wever, FamRZ 2008, 553, 555 f.; Graba, FamRZ 2008, 1217, 1221 f.; Zimmermann FPR 2009, 97, 98).

Alter des Kindes
Auf die Betreuungsbedürftigkeit des Kindes kommt es erst dann nicht mehr an, wenn das Kind ein Alter erreicht hat, in dem es zeitweise sich selbst überlassen werden kann und deswegen auch keiner durchgehenden persönlichen Betreuung durch einen Elternteil bedarf (vgl. Meier, FamRZ 2008, 101, 104).

Kein strenges Altersphasenmodell
Soweit demgegenüber in Rechtsprechung und Literatur zu der seit dem 01.01.2008 geltenden Fassung des § 1570 BGB abweichende Auffassungen vertreten werden, die an das frühere Altersphasenmodell anknüpfen und eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts allein vom Kindesalter abhängig machen ( OLG Köln, Urt. v. 27.05.2008 — 4 UF 159/07, DRsp Nr. 2008/14020 = FamRZ 2008, 2119, 2129; OLG Celle, Beschl. v. 06.10.2008 — 12 UF 101/08, FF 2009, 81, 82; wohl auch OLG Jena, Beschl. v. 24.07.2008 — 1 UF 167/08, DRsp Nr. 2008/19575 = FamRZ 2008, 2203, 2205; Wellenhofer, FamRZ 2007, 1282, 1283; Büttner, FPR 2009, 92, 94; Leitlinien des OLG Hamm unter Nr. 17.1.1 NJW 2008 Beilage zu Heft 10, 50; vgl. dazu Born, FF 2009, 92, 94 ff. und Borth, FamRZ 2008, 1, 6), sind diese im Hinblick auf den eindeutigen Willen des Gesetzgebers nicht haltbar.

ANMERKUNG

Persönliche Kindesbetreuung hat keinen Vorrang
Der BGH betont, dass es keinen Vorrang der persönlichen Betreuung gibt, sondern ab einem Alter von drei Jahren eine anderweitige Betreuungsmöglichkeit dem wohlverstandenen Interesse des Kindes dient. Daher kommt es entscheidend darauf an, inwieweit aufgrund des Einzelfalls und insbesondere der konkreten Betreuungssituation vor Ort von dem betreuenden Elternteil eine (Teil-)Erwerbstätigkeit neben der Kinderbetreuung erwartet werden kann.

Modalitäten der Fremdbetreuung entscheidend
In der Praxis kommt es dabei auf die konkret vorhandenen Modalitäten der Fremdbetreuung an. Denn diese geben den äußeren zeitlichen Rahmen für die überhaupt mögliche Erwerbstätigkeit des betreuenden Elternteils ab (vgl. Viefhues/Mleczko, Das neue Unterhaltsrecht, 2008, Rdnr. 129 ff.). Dies gilt auch, wenn das Kind tatsächlich noch keine entsprechende (ganztägige) Betreuungseinrichtung besucht. Denn das Gesetz spricht ausdrücklich von den - objektiv bestehenden - Möglichkeiten der Kinderbetreuung.

Entscheidung v. 16.07.2008 — XII ZR 109/05
Auf die subjektive Einschätzung des betreuenden Elternteils und auch dessen Wunsch nach möglichst weitgehender persönlicher Betreuung kommt es daher nicht an. Dementsprechend hat der BGH bereits in seiner Entscheidung v. 16.07.2008 — XII ZR 109/05 (DRsp Nr. 2008/16132 = FamRZ 2008, 1739 = FF 2008, 366 mit Anm. Viefhues) folgerichtig die fehlenden Prüfungen des Berufungsgerichts beanstandet, ob in dem örtlichen Bereich der Klägerin eine Vollzeitbetreuung zur Verfügung stand und steht, die es ihr erlaubt ggf. sogar vollschichtig berufstätig zu sein, oder ob aus anderen Gründen zeitweise keine persönliche Betreuung durch die Klägerin erforderlich war und ist.

Zeitliche Erfordernisse der Erwerbstätigkeit sind zu berücksichtigen
Allerdings ist auch immer zu prüfen, ob die zeitlichen Rahmenbedingungen der Kindesbetreuung mit den zeitlichen Erfordernissen der möglichen Erwerbstätigkeit übereinstimmen (täglicher Arbeitsbeginn und Arbeitsende, wöchentliche Arbeitszeiten; vgl. Viefhues, ZFE 2008, 44, 47; Wever, FamRZ 2008, 553, 558; Meier, FamRZ 2008, 101,103; Kemper, FuR 2008, 169, 174). Wenn z.B. die Mutter nur in Wechselschicht arbeiten kann, der Kindergarten aber keine entsprechenden Betreuungszeiten anbietet und auch sonst keine anderweitige Betreuung möglich ist, so kann dies dazu führen, dass ihr überhaupt keine Erwerbstätigkeit zugemutet werden kann.

Anpassungen an die Betreuungssituation des Kindes
Diese Einzelfallprüfung hat zur Folge, dass sich Veränderungen in der Betreuungssituation positiv auf den Unterhaltsanspruch auswirken können. So kann der Wechsel in die Grundschule oder zur weiterführenden Schule zu einem Wiederaufleben des Unterhaltsanspruchs führen, wenn dort - anders als zur Kindergartenzeit - keine Volltagsbetreuung für das Kind sichergestellt wird. Daher werden unterhaltsrechtliche Entscheidungen in Zukunft verstärkt nur noch temporärer Natur sein (vgl. Viefhues, ZFE 2008, 44, 48).

Weiterführende Informationen in rechtsportal.de:

Übersicht der bisher ergangenen Entscheidungen zum neuen Unterhaltsrecht

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Quelle: Dr. Wolfram Viefhues, Weiterer aufsichtführender Richter am Amtsgericht, Oberhau - Urteilsanmerkung vom 17.08.09