Verkehrsrecht -

HWS-Distorsion – Keine Harmlosigkeitsgrenze bei Frontalkollision

Eine „Harmlosigkeitsgrenze“ kann auch bei einer Frontalkollision nicht angenommen werden.

Für die Entstehung eines HWS-Syndroms können neben der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung weitere Ursachen in Betracht kommen. Daher kann auch bei einer Frontalkollision keine Harmlosigkeitsgrenze gezogen werden, bei der eine entsprechende Verletzung generell auszuschließen wäre.

Die Entscheidung: BGH, Urteil vom 08.07.2008 - VI ZR 274/07

Am 07.10.2003 ereignete sich ein Unfall, als die Beklagte unter Missachtung der Vorfahrt der Zeugin L, einer Polizeibeamtin, von einem Parkplatz fuhr, ohne auf den von links kommenden bevorrechtigten Verkehr zu achten. Es kam zu einer Frontalkollision. Die Haftung war dem Grunde nach zwischen den Parteien unstreitig.

Zwei Tage nach dem Unfall begab sich die Zeugin aufgrund von Nacken- und Kopfschmerzen in ärztliche Behandlung. Es wurde eine radiologische Untersuchung veranlasst und der Zeugin wurden Tabletten verordnet. Im Rahmen der radiologischen Untersuchung konnte kein krankhafter Befund erhoben werden. Am 20.10.2003 klagte die Zeugin über fortdauernde Kopfschmerzen, körperliche Bewegungsbeeinträchtigungen sowie anhaltendes Unwohlsein. Daraufhin wurde sie bis einschließlich 02.11.2003 arbeitsunfähig krank geschrieben und es wurden physiotherapeutische Behandlungen verordnet.

Die Kosten der hierfür aufgewendeten Heilfürsorgemaßnahmen sowie die während der Dienstunfähigkeit fortgezahlten Bezüge verlangt die Klägerin nunmehr aus übergegangenem Recht von der Beklagten.
Amts- und Landgericht haben der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Die Revision beim BGH blieb erfolglos.

Zunächst weist der BGH unter Fortsetzung seiner bisherigen Rechtsprechung darauf hin, dass für die Frage, ob die Zeugin tatsächliche eine Verletzung erlitten hat, der Vollbeweis nach § 286 ZPO zu erbringen sei, da es sich um eine Frage handelt, die die haftungsbegründende Kausalität betreffe. Es müsse daher zur Überzeugung des Richters feststehen, dass die behauptete Tatsache wahr oder unwahr ist. Es sei aber nicht notwendig, dass eine absolute Gewissheit bestehe. Vielmehr reiche ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit aus, der Zweifeln Schweigen gebiete. Die Würdigung der Beweise obliegt dem Tatrichter. Das Revisionsgericht kann lediglich überprüfen, ob diese Würdigung nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt.

Unter Zugrundelegung dieser Überlegungen war das Berufungsgericht nach Ansicht des BGH nicht gehalten, ein unfallanalytisches und ein biomechanisches Gutachten einzuholen. Es sei nicht zu beanstanden, wenn sich der Tatrichter seine Überzeugung über die Unfallursächlichkeit auf der Basis der Aussagen der Zeugin sowie des behandelnden Arztes gemacht habe. Hieran ändere auch der Einwand der Beklagten nichts, dass die Beschwerden der Zeugin nicht objektivierbar seien.

Insbesondere sei der Einwand der Beklagten unbeachtlich, dass aufgrund eine geringen Differenzgeschwindigkeit eine Verletzung der Halswirbelsäule ausgeschlossen sei.

Der BGH hatte bereits mit Urteil vom 28.01.2003 (VI ZR 139/02, NJW 2003, 1116) entschieden, dass eine Harmlosigkeitsgrenze“ bei geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen nicht geeignet sei, eine Verletzung der Halswirbelsäule trotz entgegenstehender konkreter Hinweise auszuschließen. Dies gelte, so der BGH nunmehr, nicht nur für den damals entschiedenen Fall eines Heckanstoßes, sondern vielmehr auch für die Fälle einer Frontalkollision.

Auch wenn die Bewegung eines Fahrers bei einer Frontalkollision eine andere ist als bei einem Heckanstoß, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bei einer Frontalkollision zu einer Verletzung der HWS kommen kann. Gegenteilige medizinische Erkenntnisse lägen nicht vor. Auch für die Frontalkollision gelte, dass neben der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung weitere Ursachen, beispielsweise die konkrete Sitzposition oder eine unbewusste Drehung des Kopfes, Grund für eine HWS-Distorsion sein können. Die Frage, ob ein Unfall eine Verletzung der Halswirbelsäule verursacht hat, ist daher stets eine Frage des Einzelfalls.

Anmerkung

Der BGH hatte bereits im Jahr 2003 den Versuchen eine Absage erteilt, mittels der schematischen Anwendung einer „Harmlosigkeitsgrenze“ die Vielzahl von Ansprüchen aufgrund einer HWS-Distorsion einzudämmen.
Der BGH hat nicht nur klargestellt, dass dies auch für den Fall eines Frontalzusammenstoßes gilt. Er hat daneben auch nochmals verdeutlicht, dass es sich immer um Einzelfallentscheidungen handelt. Neben der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung können auch die konkrete Sitzposition oder Vorschädigungen der Wirbelsäule Ursache für eine Distorsion sein. Aus diesem Grund wird es für die Praxis maßgeblich auf den tatsächlichen Vortrag, sowohl außergerichtlich als auch in der Tatsacheninstanz, ankommen.

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf das Urteil des BGH vom 03.06.2008 – VI ZR 235/07. Der Senat hat in dieser Entscheidung ausgeführt, dass die Einholung eines fachmedizinischen Gutachtens zum Beweis der Ursächlichkeit eines Unfalls für die vorhandenen Beschwerden nur dann nicht erforderlich ist, wenn ausgeschlossen werden kann, dass die Partei damit den Beweis der Unfallursächlichkeit führen kann.

Quelle: Rechtsanwalt Hans-Helmut Schaefer - Urteilsanmerkung vom 14.11.08