Verkehrsrecht -

Kollision zwischen linksabbiegendem Pkw entgegenkommendem Motorrad

Ist der Vorfahrtberechtigte zu Beginn des Abbiegemanövers nicht erkennbar, so ist der gegen den Wartepflichtigen sprechende Anscheinsbeweis erschüttert.

OLG Brandenburg, Urt. v. 17.09.2009 — 12 U 26/09, Deubner-Link 2009/23269

Darum geht es
Der Kläger nimmt die Beklagten auf materiellen Schadenersatz, Schmerzensgeld und Feststellung einer Einstandspflicht für sämtliche — weiteren — materiellen und immateriellen Schäden aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, bei dem der mit seinem Motorrad fahrende Kläger auf seiner Fahrspur mit dem im Gegenverkehr fahrenden und nach links abbiegenden Pkw mit Anhänger des Beklagten zu 2., gesteuert vom Beklagten zu 1., kollidierte.

Wesentliche Entscheidungsgründe
Das OLG Brandenburg vertritt die Auffassung, dass der Kläger einen Anspruch auf Ersatz der ihm entstandenen und noch entstehenden materiellen und immateriellen Schäden — soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. noch übergehen — unter Berücksichtigung einer Mithaftungsquote von 50:50  aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 18 Abs. 1, 11 StVG, 3 PflichtVersG hat.



Unabwendbares Ereignis
Nach der Beweisaufnahme hatte keine Partei nachgewiesen, dass für sie ein unabwendbares Ereignis i. S. v. § 17 Abs. 3 StVG vorlag. Für den Beklagten zu 1. war schon deshalb kein unabwendbares Ereignis anzunehmen, weil nicht nachgewiesen wurde, dass dieser vor Beginn der Einleitung des Abbiegemanövers den Kläger auf dem Motorrad nicht bereits hätte erkennen können. Entsprechend sichere Feststellungen seien von dem Sachverständigen nicht getroffen worden. Seitens des Klägers scheide die Annahme eines unabwendbaren Ereignisses schon wegen der ihm anzulastenden Geschwindigkeitsüberschreitung von jedenfalls 10 km/h aus.

Abwägung der Verursachungsbeiträge
Im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG sei auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Es müssen nur die von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahren bzw. zugestandene und bewiesene Umstände berücksichtigt werden. Jede Seite habe dabei die Umstände zu beweisen, die der Gegenseite zum Verschulden gereichen und aus denen sie die für sich günstigen Rechtsfolgen herleiten will.

Anscheinsbeweis einer Vorfahrtsverletzung erschüttert
Nach der Beweisaufnahme sei dem Beklagten zu 1. sei eine Verletzung von § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO nicht nachzuweisen. Zwar spreche bei einer Kollision eines Linksabbiegers mit einem entgegenkommenden Fahrzeug in dessen Fahrbahn der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Linksabbiegers, vorliegend sei der Anscheinsbeweis jedoch erschüttert. Eine Erschütterung sei immer dann der Fall, wenn der Linksabbieger darlegt und beweist, dass er sich beim Abbiegen pflichtgemäß verhalten habe. Hierzu genüge es, wenn Tatsachen nachgewiesen werden, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit ergäbe, dass der Vorfahrtberechtigte bei Beginn des Abbiegemanövers für den Wartepflichtigen noch nicht sichtbar gewesen sei. Denn eine schuldhafte Verletzung des Vorfahrtsrechts eines anderen Kraftfahrers sei nicht anzunehmen, wenn der Vorfahrtberechtigte bei Einleitung des Abbiegemanövers vom Wartepflichtigen noch nicht gesehen werden konnte.

Vorfahrtberechtigter nicht erkennbar
Eine solche Situation sei im vorliegenden Fall gegeben gewesen. Der Sachverständige habe nachvollziehbar aufgrund der an den Fahrzeugen festgestellten Beschädigungen die Kollisionsgeschwindigkeit des Motorrades auf einen Bereich von 90-110 km/h und diejenige des Pkws auf einen Bereich zwischen 0-10 km/h nachvollziehbar eingeschätzt. Zugleich habe er dargelegt, dass unter diesen Umständen — bei einer Abbiegegeschwindigkeit des Pkw von 10 Km/h und einer Annäherungsgeschwindigkeit des Motorrades von 110 km/h — sich das Motorrad noch in einer Entfernung von etwa 131 m vom Pkw befunden haben kann, als der Beklagte zu 1. den Abbiegevorgang eingeleitet hat. Bei der von dem Sachverständigen mit 120 m angegebenen Sichtweite des Beklagten zu 1. war in diesem Fall das Motorrad für ihn vor Beginn des Abbiegevorgangs nicht sichtbar, eine Vorfahrtsverletzung habe mithin nicht vorgelegen. Damit sei die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als nur durch eine Vorfahrtsverletzung des Beklagten zu 1. zu erklärenden Geschehensablaufs gegeben und der gegen den Beklagten zu 1. sprechende Anscheinsbeweis zugleich erschüttert. Der vom Kläger zu erbringende Vollbeweis einer Vorfahrtsverletzung des Beklagten zu 1. sei aus den vorgenannten Gründen ebenfalls nicht geführt.

Pflichten beim Abbiegen
Auch im Übrigen habe der Kläger einen Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1. nicht nachgewiesen. Zwar sei der Abbiegende dazu verpflichtet entweder ein zügiges Abbiegemanöver durchzuführen oder — soweit dies fahrzeugbedingt nicht möglich sei — bei sich näherndem Gegenverkehr das Fahrzeug sofort anzuhalten. Es sei allerdings nicht bewiesen, dass der Kläger den Unfall hätte vermeiden können, wenn der Beklagte zu 1. sein Fahrzeug vorzeitig zum Stehen gebracht hätte. Ebenso wenig seien Anhaltspunkte vorhanden, aus denen geschlossen werden könne, dass ein zügigeres Durchführen des Abbiegemanövers den Unfall verhindert hätte.

Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit
Dem Kläger hingegen sei eine Geschwindigkeitsverletzung anzulasten. Im Ergebnis stehe ein Verstoß des Klägers gegen § 3 Abs. 3 StVO fest. Es sei allerdings lediglich eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 10 km/h nachgewiesen. Der Sachverständige habe ausgeführt, dass bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit seitens des Klägers die eingetretenen Schäden jedenfalls geringer ausgefallen wären.

Haftungsverteilung
Im Ergebnis der Abwägung der Verursachungsbeiträge sieht der Senat bei keiner Seite ein Überwiegen der Haftung und hält deshalb eine Haftungsverteilung von ¿ zu ¿  für angemessen.
Zwar sei dem Beklagten zu 1. kein Verkehrsverstoß vorzuwerfen, dennoch stelle das von ihm durchgeführte Abbiegemanöver eine die Betriebsgefahr erhöhende Handlung dar.
Es sei auch zu berücksichtigen, dass der Beklagte zu 1. einen Pkw mit Anhänger geführt habe.
Auf der anderen Seite fällt dem Kläger zwar ein Verkehrsverstoß zur Last, jedoch sei die nachgewiesene Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht übermäßig hoch gewesen.

Anmerkung des Autors
Das Urteil des OLG Brandenburg ist deshalb besonders lesenswert, weil es schulbuchartig die straßenverkehrsrechtlichen Anspruchsgrundlagen durchprüft und sich in seinen Entscheidungsgründen ausführlich mit der Darlegungs- und Beweislastverteilung auseinandersetzt, die für den Nachweis der Unabwendbarkeit bzw. den Verschuldensnachweis und der Haftung aus der Betriebsgefahr gelten, sowie mit der Frage, wann der Beweis des ersten Anscheins als erschüttert angesehen werden muss.

Zutreffend weist daher der Senat darauf hin, dass im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG danach zu fragen ist, inwieweit der Schaden von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jede Seite hat dabei die Umstände zu beweisen, die der Gegenseite zum Verschulden gereichen und aus denen sie für die nach § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will.

Im vorliegenden Fall hatte der vom Landgericht Neuruppin gehörte Sachverständige angegeben, die Geschwindigkeit des Klägers könne zwischen 90 und 110 km/h gelegen haben. Im Rahmen der Verschuldensprüfung konnte seitens des Klägers daher nur eine Geschwindigkeit von 90 km/h berücksichtigt werden, die vom Sachverständigen als nachgewiesen angesehen wurde. Im Rahmen der Prüfung, inwiefern der Verkehrsunfall für den Kläger unabwendbar war, war jedoch darauf abzustellen, dass es auch möglich gewesen war, dass der Kläger mit einer Geschwindigkeit von 110 km/h gefahren ist. Unabwendbar ist ein Ergebnis nämlich nur dann, wenn es durch äußerste mögliche Sorgfalt nicht abgewendet werden kann, wobei ein schuldhaftes Fehlverhalten ein unabwendbares Ereignis ausschließt und darlegungs- und beweisbelastet für die Unabwendbarkeit des Unfalls derjenige ist, der sich entlasten will.
Die Entscheidung des Senats ist daher in sich schlüssig und konsequent. Eine Schadenverteilung von 50:50 entspricht dem jeweiligen Verursachungsbeitrag der an dem Unfall Beteiligten.

Quelle: Rechtsanwalt Dr. Stephan Schröder, Fachanwalt für Verkehrsrecht, Kiel - Urteilsbesprechung mit Anmerkung des Autors vom 11.11.09