Arbeitsrecht, Sozialrecht -

Tarifliche Einstufung: Berufserfahrung beim selben Arbeitgeber

Wenn Tarifverträge beim selben Arbeitgeber erworbene einschlägige Berufserfahrung gegenüber entsprechenden Zeiten bei anderen Arbeitgebern privilegieren, muss das nicht ohne weiteres dem EU-Recht widersprechen. Das hat das BAG entschieden. Ein entsprechender Auslandsbezug ist insoweit eine notwendige Bedingung für die Anwendung der unionsrechtlichen Freizügigkeitsregelungen.

Sachverhalt

Eine staatlich anerkannte Erzieherin war nach Absolvierung zweier Berufspraktika 1997 und 1998 im Jahr 1999 bei einem Kinderhaus, danach vom 01.10.2001 bis zum 15.08.2011 in einem Kinderladen und vom 16.08.2011 bis zum 31.12.2013 bei einer weiteren Einrichtung in der Bundesrepublik Deutschland als Erzieherin beschäftigt. Seit dem 06.01.2014 ist sie erstmals beim Land Berlin als Erzieherin tätig. Der schriftliche Arbeitsvertrag enthält eine Bezugnahmeklausel, nach der auf das Arbeitsverhältnis die Tarifverträge für den öffentlichen Dienst der Länder in der für das Land Berlin geltenden Fassung (TV-L) Anwendung finden.

Die einschlägigen Vorschriften des § 16 Abs. 2 S. 2 – 3 TV-L lauten:

„Verfügen Beschäftigte über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr aus einem vorherigen befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber, erfolgt die Stufenzuordnung unter Anrechnung der Zeiten der einschlägigen Berufserfahrung aus diesem vorherigen Arbeitsverhältnis. Ist die einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr in einem Arbeitsverhältnis zu einem anderen Arbeitgeber erworben worden, erfolgt die Einstellung in die Stufe 2, (…).“

Nach § 4 des Arbeitsvertrages ist die Erzieherin in die Entgeltgruppe 8 TV-L eingruppiert. Bei ihrer Einstellung wurde sie innerhalb dieser Entgeltgruppe der Stufe 2 zugeordnet. Sie hält die Privilegierung einschlägiger Berufserfahrung beim selben Arbeitgeber durch § 16 Abs. 2 TV-L u.a. unter unionsrechtlichen Aspekten für unzulässig. Sie begehrt mit ihrer Klage die Feststellung, dass ihr seit Januar 2014 Entgelt aus Stufe 5 der Entgeltgruppe 8 TV-L zusteht.

Das ArbG Berlin hat der Klage mit Urteil vom 01.04.2015 (21 Ca 14506/14) stattgegeben, das LAG Berlin-Brandenburg hat das Urteil des ArbG Berlin mit Urteil vom 06.10.2015 (7 Sa 773/15) abgeändert und die Klage abgewiesen. Die (zugelassene) Revision der Klägerin hat das BAG mit Urteil vom 23.02.2017 (6 AZR 843/15) zurückgewiesen.

Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Es verstößt nicht gegen die unionsrechtlichen Freizügigkeitsvorschriften in Art. 45 AEUV und Art. 7 VO 492/2011/EU, dass § 16 Abs. 2 TV-L die beim selben Arbeitgeber erworbene einschlägige Berufserfahrung gegenüber entsprechenden Zeiten bei anderen Arbeitgebern privilegiert. § 16 Abs. 2 TV-L weist keinen hinreichenden Auslandsbezug auf, wenn Arbeitnehmer nur in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt waren und keine Qualifikationen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union erworben haben. Der sachliche Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Freizügigkeitsvorschriften ist in solchen Fällen nicht eröffnet. Das ist durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt. Auch der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz steht der Privilegierung der beim selben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung nicht entgegen.

Folgerungen aus der Entscheidung

Die Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer setzt als notwendige Bedingung einen Auslandsbezug voraus. Bei reinen Binnensachverhalten kann es im Einzelfall zu einer sog. Inländerdiskriminierung kommen.

Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz steht der unterschiedlichen Behandlung eines „Inländers“ im Vergleich zu ausländischen Arbeitnehmern nicht entgegen. Es fehlt insoweit an einem vergleichbaren Sachverhalt, bei dem eine Differenzierung aufgrund der unterschiedlichen Rechtsregelungen sachlich gerechtfertigt ist.

Will der deutsche Gesetzgeber eine Gleichbehandlung von Arbeitnehmern bei rein inländischen Sachverhalten erreichen, muss er tätig werden. Dies hat er beispielsweise durch Gesetz zur Umsetzung der Mobilitäts-RL vom 21.12.2015 getan, das auch bei rein inländischen Sachverhalten Anwendung findet.

Praxishinweis

Wäre die Klage von einer Arbeitnehmerin erhoben worden, die einschlägige Berufserfahrung in einem Mitgliedstaat der EU bzw. des EWR zurückgelegt hätte, hätte sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Erfolg gehabt.

Die Arbeitnehmerin hatte sich auf das Urteil des EuGH vom 05.12.2013 (C-514/12 „Salzburger Landeskliniken Betriebs GmbH“) berufen. Tatsächlich ist der EuGH in dieser Entscheidung zu einem entgegengesetzten Ergebnis gekommen. Die Entscheidung erging auf Vorlage des Landesgerichts Salzburg. Ihr lag ein Sachverhalt zugrunde, nach dem 113 von 716 Ärzten sowie 340 von 2.850 nicht-ärztlichen Angehörigen von Gesundheitsberufen aus einem anderen Mitgliedstaat der EU oder des EWR stammten.

Nach der einschlägigen Regelung des nationalen österreichischen Rechts wurden die von einem Arbeitnehmer ununterbrochen bei einer Gebietskörperschaft zurückgelegten Dienstzeiten bei der Ermittlung des Stichtags für die Vorrückung in höhere Entlohnungsstufen in vollem Ausmaß, alle anderen Dienstzeiten dagegen nur teilweise berücksichtigt. Nach Auffassung des EuGH ist diese Regelung mit Unionsrecht nicht vereinbar. Sie ist geeignet, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu beeinträchtigen, was nach den Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 1 VO Nr. 492/2011/EU grundsätzlich verboten ist. Eine ausreichende Rechtfertigung hat die Republik Österreich in dem Verfahren nicht dargelegt.

BAG, Urt. v. 23.02.2017 - 6 AZR 843/15

Quelle: Rechtsanwalt und FA für Arbeitsrecht Dr. Martin Kolmhuber