Familienrecht, Baurecht -

Gerichtliche Hinweispflicht und rechtliches Gehör

Entscheidungsbesprechung mit Praxishinweis: Umfang des rechtlichen Gehörs im Zivilverfahren; Hinweispflichten des Berufungsgerichts

Zwar ist die Entscheidung des BGH in einer Baurechtsangelegenheit ergangen. Es wird ihr jedoch über diesen Rechtsbereich hinaus erhebliche Bedeutung beigemessen werden können.

redaktioneller Leitsatz
Der Anspruch einer Partei auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn das Berufungsgericht in entscheidungserheblicher Weise gegen seine Hinweispflicht verstoßen hat. Eine in erster Instanz obsiegende Partei darf darauf vertrauen, dass das Berufungsgericht ihr rechtzeitig einen Hinweis gibt, wenn es der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und insbesondere aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält.

Die Entscheidung: BGH, Beschl. v. 27.11.2008 - VII ZR 202/07, DRsp Nr. 2008/24150

Darum geht es
Die Parteien stritten um restlichen Werklohn. Die Beklagte hat für die Klägerin auftragsgemäß Fenster- und Türelemente in einen Neubau der Klägerin eingebaut. Sechs Abschlagsrechnungen wurden vollständig bezahlt, bei der siebten Rechnung nahm die Beklagte Kürzungen vor. Die Klägerin stellte daraufhin die Arbeiten ein. Die Beklagte kündigte den Vertrag. Aus der Schlussrechnung der Klägerin ließ die Beklagte einen Betrag in Höhe von rd. 200.000 € unbezahlt. Der von der Klägerin daraufhin erhobenen Klage gab das Landgericht im wesentlichen statt. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG die Klage mangels Schlüssigkeit abgewiesen, soweit die Beklagte zur Zahlung von mehr als rd. 130.000 € verurteilt worden ist. Mit der Revision, deren Zulassung die Klägerin begehrt, erstrebt sie die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe
Soweit das Berufungsgericht einen Anspruch der Klägerin auf restlichen Werklohn in Höhe von rd. 70.000 € aberkannt hatte, hob der BGH das Berufungsurteil nach § 544 Abs. 7 ZPO auf mit der Begründung, das Urteil beruhe überwiegend auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör:

Nachdem das Landgericht die Werklohnforderung in vollem Umfang für begründet erachtete, habe das Berufungsgericht auf seine abweichende Ansicht zur Schlüssigkeit des Vortrags hinweisen und der Klägerin Gelegenheit zur Ergänzung geben müssen. Dies habe das Berufungsgericht unterlassen und damit in entscheidungserheblicher Weise gegen seine Hinweispflicht verstoßen und den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt.

Eine in erster Instanz siegreiche Partei dürfe darauf vertrauen, dass das Berufungsgericht ihr rechtzeitig einen Hinweis nach §§ 139, 278 Abs. 3 ZPO erteile, wenn es der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen wolle und insbesondere aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich halte (BGH, BauR 2007, 110, 111).

Der Gehörsverstoß sei auch entscheidungserheblich, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Klägerin bei ausreichender Gelegenheit zu ergänzender Stellungnahme aufgrund zusätzlichen Vortrags obsiegt hätte.

Der Verfahrensfehler des Berufungsgerichts sei auch entscheidungserheblich, vor allem soweit der Beklagten eine Aufrechnung zugebilligt worden sei. Dem liege die auf dem Gehörsverstoß beruhende Auffassung zugrunde, die Klägerin habe ihren Mehraufwand für die Anfertigung der Fenster nicht schlüssig begründet und es habe deswegen nicht festgestellt werden können, dass die Klägerin die Fristüberschreitung nicht zu vertreten habe.

Praxishinweis
In ihrem Kern enthält die Entscheidung den Grundsatz, dass das Berufungsgericht gegen die in erster Instanz obsiegende Partei aufgrund anderer rechtlicher Beurteilung nicht entscheiden darf, ohne diese Partei zuvor auf diesen Umstand hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu geben, ihren Vortrag entsprechend der geänderten Beurteilung zu ergänzen.

Auch im Bereich des Familienrechts wird hierauf zu achten sein, vor allem im Zusammenhang mit den zum 01.01.2008 eingeführten Änderungen des Unterhaltsrechts, deren Tragweite auch ein Jahr nach der Reform in rechtlicher Hinsicht kaum als abschließend geklärt betrachtet werden kann.

Der Anwalt der beim Familiengericht obsiegenden Partei hat bei einem Verlust des Prozesses vor dem OLG eingehend zu prüfen, inwieweit dieser Verlust auf eine rechtliche Beurteilung des Sachverhalts durch das Berufungsgericht zurückzuführen ist, die im Gegensatz zur Auffassung des Familiengerichts steht.

Steht die rechtliche Beurteilung des OLG derjenigen des Familiengerichts entgegen und hat das OLG auf seine differenzierte rechtliche Beurteilung nicht hingewiesen, muss umgehend geprüft werden, ob die Durchführung der Revision in Betracht kommt bzw. ihre Zulassung zu beantragen ist. Im Letzteren Fall ist darauf zu achten, dass die Nichtzulassungsbeschwerde innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils zu laufen beginnt, § 544 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Quelle: Rechtsanwalt Michael Nickel, FAFamR, Hagen - Entscheidungsbesprechung vom 16.03.09