Sozialrecht, Arbeitsrecht -

Volle Erwerbsminderungsrente ohne Antrag auf Teilzeit

Versicherte haben Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente trotz eines nur teilweise geminderten Restleistungsvermögens, wenn der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist. Ruht das Arbeitsverhältnis, kann die Rentenversicherung nicht verlangen, dass der Versicherte bei seinem Arbeitgeber eine Reduzierung der Arbeitszeit beantragt. Das hat das Hessische Landessozialgericht entschieden.

Darum geht es

Ein 1959 geborener Bauzeichner ist im öffentlichen Dienst beschäftigt. Im Jahr 2012 wurde er aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung arbeitsunfähig und erhielt zunächst Krankengeld, anschließend Arbeitslosengeld.

Der Versicherte, dessen Arbeitsverhältnis aufgrund tarifvertraglicher Regelung ruht, beantragte eine Rente wegen Erwerbsminderung, da er nur noch drei bis unter sechs Stunden täglich arbeiten könne. Die Rentenversicherung gewährte ihm allerdings lediglich eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.

Sie verwies darauf, dass er gegenüber seinem Arbeitgeber seinen Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit geltend machen müsse. Der erkrankte Versicherte verwies darauf, dass sein Arbeitgeber erklärt habe, keinen leidensgerechten Arbeitsplatz zur Verfügung stellen zu können.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Die Richter beider Instanzen gaben dem Versicherten Recht. Er habe einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, da der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen sei (sog. Arbeitsmarktrente).

Versicherte hätten einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung trotz eines nur teilweise geminderten Restleistungsvermögens, wenn der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen sei, der Versicherte also praktisch nicht damit rechnen könne, dass sich ihm eine Gelegenheit zur entgeltlichen Nutzung seiner reduzierten Arbeitsfähigkeit biete.

Eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes liege nach jahrzehntelanger ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vor, wenn weder der Rentenversicherungsträger noch die Agentur für Arbeit dem Versicherten innerhalb eines Jahres nach Rentenantragstellung einen entsprechenden Arbeitsplatz anbieten könnten.

In der Praxis sähen die Rentenversicherungsträger allerdings bislang wegen der geringen Vermittlungschancen grundsätzlich von einer Prüfung im Einzelfall ab.

Nicht verschlossen sei der Arbeitsmarkt, wenn der Versicherte einen Arbeitsplatz tatsächlich innehabe und daraus Arbeitsentgelt beziehe. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall, da das konkrete Arbeitsverhältnis ruhe. Auch sei dem Versicherten von seinem Arbeitgeber kein leidensgerechter Arbeitsplatz angeboten worden.

Dass der Versicherte eine Reduzierung der Arbeitszeit nicht beantragt habe, stehe dem Anspruch auf Vollzeitrente nicht entgegen.

Zwar kämen gesetzliche und tarifvertragliche Ansprüche auf Teilzeitbeschäftigung in Betracht, soweit eine solche für den Arbeitgeber zumutbar sei bzw. betriebliche Gründe nicht entgegenstünden. Auf diese arbeitnehmerrechtlichen Ansprüche könne sich die Rentenversicherung jedoch nicht berufen.

Dem Versicherten obliege weder eine gesetzliche noch eine ungeschriebene Mitwirkungspflicht, diese Ansprüche gegenüber seinem Arbeitgeber geltend zu machen. Das Verhalten des Versicherten sei auch nicht rechtsmissbräuchlich.

Die Revision wurde zugelassen.

LSG Hessen, Urt. v. 23.08.2019 - L 5 R 226/18

Quelle: LSG Hessen, Pressemitteilung v. 16.10.2019