Anfechtungstatbestände

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Inkongruente Deckungsgeschäfte

Begriff

Definition

Ein Gläubiger hat eine Sicherung oder Befriedigung erlangt oder ermöglicht erhalten, die er überhaupt nicht, nicht in der erfolgten Art oder nicht zu der Zeit verlangen konnte. Die bewirkte Leistung muss, um als inkongruent zu gelten, also von der Leistung abweichen, auf die der Gläubiger nach objektiver Betrachtung aufgrund des bestehenden Schuldnerverhältnisses zum Leistungszeitpunkt ein Recht hatte. Dies ist z.B. dann anzunehmen, wenn trotz vereinbarter Stundung geleistet wird, wenn eine Leistung erfüllungshalber oder an Erfüllungs statt erbracht wird, oder wenn eine Sicherung nachträglich gestellt wird. Die Tatbestände der §§ 130 und 131 InsO schließen sich gegenseitig aus.

Inkongruente Befriedigung

Eine nicht zu beanspruchende Befriedigung erhält regelmäßig derjenige Gläubiger, der gegen den späteren Insolvenzschuldner eine nicht einklagbare oder eine verjährte Forderung besitzt. Auch die Befriedigung einer Forderung, die auf einem formungültigen Vertrag beruht, ist inkongruent. Nicht in der Art zu beanspruchen hat der Gläubiger eine Befriedigung, die nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses von der tatsächlich geschuldeten Leistung abweicht (BGH v. 09.01.2003 – IX ZR 85/02). Dies trifft z.B. dann zu, wenn zur Begleichung einer Forderung anstelle der Barzahlung oder Überweisung ein Kundenscheck weitergegeben wird (BGH v. 30.09.1993 – IX ZR 227/92). Leistungen, die der Schuldner zu einer Zeit erbringt, zu der sie noch nicht fällig sind, und der Gläubiger sie daher noch nicht beanspruchen kann, sind im Allgemeinen verdächtig. Leistet der Schuldner jedoch vor Eintritt der Fälligkeit, um die ihm vom Gläubiger eingeräumte Möglichkeit eines Skontoabzugs auszunutzen, stellt sich das Erbrachte auch unter Berücksichtigung der Verkehrssitte regelmäßig nicht als inkongruente Deckung dar (BGH v. 06.05.2010 – IX ZR 114/08).

Verrechnung im Kontokorrent

Verrechnet eine Bank für den Kunden eingehende Zahlungen mit ihrem noch nicht fälligen Anspruch auf Darlehensrückzahlung, ist die dadurch erlangte Befriedigung nicht inkongruent, wenn die Verrechnung mit dem Kunden vereinbart war (BGH v. 11.02.2010 – IX ZR 42/08).

Mittelbare Zahlung

Anfechtungsrechtlich macht es keinen Unterschied, ob der zahlende Dritte unmittelbar an den Gläubiger der Schuldnerin zur Tilgung deren Schulden oder zunächst an die Schuldnerin zahlt, die den Betrag sodann an ihren Gläubiger weiterleitet (LG Hamburg v. 22.02.2010 – 303 T 30/09). Die Zahlung eines Dritten etwa an den Sozialversicherungsträger des Schuldners, die aufgrund einer mit diesem getroffenen Vereinbarung zur Tilgung fälliger Beitragsforderungen erfolgt (mittelbare Zahlung), bewirkt i.d.R. eine inkongruente Deckung (BGH v. 09.01.2003 – IX ZR 85/02; BGH v. 08.12.2005 – IX ZR 182/01). Inkongruent ist auch die vom Schuldner durch Anweisung einer Zwischenperson erwirkte mittelbare Zahlung an einen seiner Gläubiger, wenn jener Gläubiger keinen Anspruch auf diese Art der Erfüllung hatte (BGH v. 08.10.1998 – IX ZR 337/97).

Inkongruente Sicherung

Globalzession als kongruente Sicherung

Eine inkongruente Sicherung liegt u.a. vor, wenn eine Sicherungsabtretung unter der aufschiebenden Bedingung der Zahlungseinstellung vereinbart wird (BGH v. 18.02.1993 – IX ZR 129/92). Abweichend von seiner bis dato vertretenen Auffassung sieht der BGH nunmehr in einer Globalzession nur eine kongruente Deckung, auch wenn in dieser die künftigen Forderungen nicht individualisiert sind (BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07; Aufgabe: BGH v. 07.03.2002 – IX ZR 223/01).

Gesamtbetrachtung

Begibt ein Schuldner eine Sicherung zugleich sowohl für künftige Forderungen als auch für bereits bestehende Verbindlichkeiten, und hat der Gläubiger jedenfalls auf letztere Sicherung keinen Anspruch, handelt es sich um ein insgesamt inkongruentes, in vollem Umfang nach § 131 InsO anfechtbares Deckungsgeschäft, wenn nicht festgestellt werden kann, ob und in welchem Umfang sich die Sicherung auf bestimmte Ansprüche bezieht (BGH v. 08.12.2011 – IX ZR 57/08).

Zwangsvollstreckung

Rechtshandlung eines Gläubigers

Auch im Rahmen des § 131 InsO sind neben Rechtshandlungen des Schuldners solche anderer Personen anfechtbar, so dass insbesondere Vollstreckungsmaßnahmen erfasst werden (vgl. § 141 InsO; BGH, MDR 1991, 1140; BGH, MDR 1995, 811; BGH, MDR 1997, 1140; BGH, MDR 2002, 1027), soweit diese nicht bereits aufgrund § 88 InsO unwirksam sind (Rückschlagsperre). Zahlungen, die der Gläubiger im Rahmen einer Zwangsvollstreckung erhält, gelten als solche, auf die er "nicht in dieser Art" einen Anspruch hat (vgl. BAG v. 03.07.2014 – 6 AZR 451/12).

Zahlung aufgrund drohender Zwangsvollstreckung

Befriedigt der Schuldner durch eigene Leistung einen Gläubiger, um die drohende Zwangsvollstreckung abzuwenden, so ist auch diese Leistung als inkongruente Deckung anzusehen, soweit sie in den letzten drei Monaten vor dem Eröffnungsantrag erfolgte; die Zwangsvollstreckung muss demnach noch nicht begonnen haben, vielmehr genügt es, wenn sie unmittelbar bevorsteht (BGH v. 11.04.2002 – IX ZR 211/01). Der zur Inkongruenz führende Vollstreckungsdruck kann nicht durch Rückstandsanzeigen bezüglich der vorausgegangenen Monatsbeiträge erzeugt werden (BGH v. 17.06.2010 – IX ZR 134/09). Dagegen kann die Leistung zur Abwendung der Zwangsvollstreckung auch dann als inkongruente Deckung anfechtbar sein, wenn der Gläubiger unter Ankündigung der Zwangsvollstreckung zur umgehenden Leistung auffordert, ohne eine letzte konkrete Frist zu setzen (BGH v. 20.01.2011 – IX ZR 8/10). Verfügt der Gläubiger noch nicht über einen Vollstreckungstitel, scheidet die Anfechtbarkeit einer geleisteten Zahlung nach § 131 InsO aus (BAG v. 03.07.2014 – 6 AZR 451/12). Ein die Inkongruenz i.S.v. § 131 Abs. 1 InsO begründender Druck einer unmittelbar bevorstehenden Zwangsvollstreckung besteht noch nicht, wenn der Schuldner nach Zustellung eines Titels die titulierte Forderung erfüllt, ohne dass der Gläubiger die Zwangsvollstreckung zuvor eingeleitet oder angedroht hat (BAG v. 27.02.2014 – 6 AZR 367/13).

Zwangsvollstreckung außerhalb des Dreimonatszeitraums

Zwangsvollstreckungsmaßnahmen von Gläubigern außerhalb des Dreimonatszeitraums können dagegen nicht mit der Begründung als inkongruent angesehen werden, die Befugnis des Gläubigers, sich mithilfe hoheitlicher Zwangsmittel eine rechtsbeständige Sicherung oder Befriedigung der eigenen fälligen Forderungen zu verschaffen, trete hinter dem Schutz der Gläubigergesamtheit zurück. Dasselbe gilt dann aber auch für Leistungen des Schuldners, die dieser mehr als drei Monate vor dem Eröffnungsantrag auf eine fällige Forderung zur Vermeidung einer unmittelbar bevorstehenden Zwangsvollstreckung erbracht hat. Soweit solche Zahlungen jedoch in der Absicht vorgenommen wurden, die Insolvenzgläubiger in ihrer Gesamtheit zu benachteiligen, ergibt sich deren Anfechtbarkeit aus § 133 InsO (siehe auch Teil 7/4.5).

Zahlungen unter dem Druck eines Insolvenzantrags

Inkongruent ist auch stets die aufgrund eines Insolvenzantrags von dem Gläubiger erzielte Deckung. Der antragstellende Gläubiger hat daher regelmäßig kein rechtlich geschütztes Interesse daran, mit dem Ziel der Antragsrücknahme erbrachte Zahlungen des Schuldners als Erfüllung anzunehmen (BGH v. 18.12.2003 – IX ZR 199/02). Die durch den Druck eines Insolvenzantrags bewirkten Leistungen sind auch außerhalb der gesetzlichen Krise stets inkongruent, weil sie weder dem Inhalt des Schuldverhältnisses entsprechen noch mit Zwangsmitteln erlangt worden sind, die dem einzelnen Gläubiger zur Durchsetzung seiner Ansprüche vom Gesetz zur Verfügung gestellt werden (BAG v. 27.03.2014 – 6 AZR 989/12).

Anfechtungsvoraussetzungen

Ein inkongruentes Deckungsgeschäft ist anfechtbar

Dreimonatsfrist

gem. § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO, wenn es innerhalb des letzten Monats vor dem Eröffnungsantrag oder danach vorgenommen wurde;

gem. § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO, wenn es innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen wurde und wenn der Schuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig war;

gem. § 131 Abs. 1 Nr. 3 InsO, wenn es innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen wurde und wenn dem Gläubiger zum Zeitpunkt der Handlung bekannt war, dass es die Insolvenzgläubiger benachteiligt. Dabei steht der Kenntnis der Benachteiligung der Insolvenzgläubiger die Kenntnis von Umständen gleich, die zwingend auf die Benachteiligung schließen lassen (§ 131 Abs. 2 Satz 1 InsO). Der Gläubiger muss insoweit solche Tatsachen kennen, aus denen sich bei zutreffender rechtlicher Beurteilung zweifelsfrei ergibt, dass der Schuldner infolge seiner Liquiditäts- und Vermögenslage in absehbarer Zeit seine Zahlungspflichten nicht mehr in vollem Umfang erfüllen kann und dass dann Insolvenzgläubiger teilweise leer ausgehen (BGH v. 26.09.2002 – IX ZR 66/99).

Fristbeginn

Maßgebend für den Beginn der in § 131 InsO genannten Monatsfristen ist wiederum der Anfang des Tags, der durch seine Zahl dem Tag entspricht, an dem der Antrag auf Verfahrenseröffnung beim Insolvenzgericht eingegangen ist (§ 139 Abs. 1 InsO; siehe auch Teil 7/4.2). Für die Bestimmung des Zeitpunkts der Vornahme einer Rechtshandlung kommt es § 140 Abs. 1 InsO auf den Zeitpunkt an, in dem die rechtlichen Wirkungen der Handlung eintreten.

Fristbeginn bei Forderungspfändung

Eine Forderungspfändung ist dabei grundsätzlich zu dem Zeitpunkt vorgenommen, zu dem der Pfändungsbeschluss dem Drittschuldner zugestellt wird, weil damit ihre rechtlichen Wirkungen eintreten (§ 829 Abs. 3 ZPO). Soweit sich die Pfändung jedoch auf eine künftige Forderung bezieht, wird ein Pfandrecht erst mit deren Entstehung begründet, so dass auch anfechtungsrechtlich auf diesen Zeitpunkt abzustellen ist (BGH v. 20.03.2003 – IX ZR 166/02). Bei der Pfändung der Ansprüche des Schuldners gegen das Kreditinstitut aus einem vereinbarten Dispositionskredit ("offene Kreditlinie") gilt die Rechtshandlung demnach erst dann als vorgenommen, wenn und soweit der Schuldner den ihm zur Verfügung stehenden Kreditbetrag abruft (BGH v. 22.01.2004 – IX ZR 39/03). Die gilt unabhängig von § 832 ZPO auch für die Pfändung künftiger Lohnzahlungen. Der Anspruch auf Lohnzahlung entsteht entsprechend der arbeitsvertraglichen Vereinbarung regelmäßig mit Abschluss des Abrechnungszeitraums. In diesem Zeitpunkt wird die Pfändung wirksam und erweist sich damit als anfechtbar, wenn der Zeitpunkt innerhalb des maßgeblichen Anfechtungszeitraums liegt (BGH v. 17.07.2008 – IX ZR 203/07). Bezieht sich die Pfändung dagegen auf den Anspruch auf Zahlung der gesetzlichen Altersrente, ist auf den Zeitpunkt der ursprünglichen Pfändung abzustellen (LG Hannover v. 19.03.2019 – 20 O 277/16).

Wirkungen der Vorpfändung

Trifft eine Vorpfändung mit einem nachfolgend eröffneten Insolvenzverfahren zusammen, so gilt Folgendes:

Auch dann, wenn die Vorpfändung außerhalb der maßgeblichen Frist des § 88 InsO erwirkt wurde, muss auch die Pfändung selbst außerhalb dieser Frist wirksam werden. Unterfällt dagegen die Pfändung der Rückschlagsperre, so wird sie mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens unwirksam. Nachdem damit keine Pfändungswirkungen eintreten, können diese auch nicht i.S.d. § 845 ZPO vorverlagert werden. Ähnliches gilt für die Frage der Anfechtbarkeit der Pfändung gem. § 131 InsO. Wird die Pfändung innerhalb der Frist des § 131 InsO wirksam, so bleibt sie auch dann als inkongruente Deckung anfechtbar, wenn sie sich auf eine Vorpfändung bezieht, die außerhalb der Frist des § 131 InsO ausgebracht wurde (BGH v. 23.03.2006 – IX ZR 116/03). Demnach kann über eine Vorpfändung kein insolvenzfestes Absonderungsrecht i.S.d. § 50 InsO erlangt werden.

Beweislast

Die Beweislast für das Vorliegen der einzelnen Tatbestandsmerkmale trägt der Insolvenzverwalter. Eine Beweislastumkehr enthält § 131 Abs. 2 Satz 2 InsO für den Fall, dass das Deckungsgeschäft mit einer Person abgeschlossen wird, die dem Schuldner zur Zeit der Handlung i.S.d. § 138 InsO nahestand (siehe auch Teil 7/5). Insoweit wird vermutet, dass sie die Benachteiligung i.S.d. § 131 Abs. 1 Nr. 3 InsO kannte.